Die iranische Theokratie befindet sich in der schwierigsten Herausforderung seit ihrem Bestehen nach der Revolution 1979. Denn seit September gehen die Menschen in Iran auf die Strasse, um sich gegen das Regime aufzulehnen und mehr Freiheit zu verlangen. Der Tropfen, der das Fass damals zum Überlaufen brachte, war der wohl gewaltsame Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini.
Und jetzt sollen religiöse Extremisten also Mädchen vergiften. Diese neuen Vorwürfe drohen die öffentliche Wut erneut zu schüren, da Lehrpersonen und Eltern um die Sicherheit ihrer Schützlinge und ihrer Kinder fürchten.
Am Dienstag haben iranische Lehrpersonen in mehreren Städten gegen die mutmasslichen Giftanschläge auf Hunderte Schülerinnen protestiert. Und während Sicherheitskräfte die Demos mit Wasserwerfern und Tränengas auflösten, haben Staatsanwälte Strafanzeige gegen Menschen erstattet, die sich zu den noch immer nicht aufgeklärten Vorfällen geäussert haben.
Am 1. März meldete die in Teheran erscheinende reformorientierte Zeitung Etemad, dass in mindestens 127 Schulen in Iran Vergiftungsverdachtsfälle gemeldet worden seien. Brisant dabei: Fast jede Schule, die einen Vorfall meldete, war eine Mädchenschule. Die ersten Fälle wurden bereits im November gemeldet.
Aktivisten und iranische Medien hatten bereits zuvor berichtet, dass über 1000 Schülerinnen erkrankt seien und mindestens 400 von ihnen in ein Spital eingeliefert werden mussten.
Es ist nach wie vor unklar, wer hinter den mutmasslichen Anschlägen steckt und welche Chemikalien – wenn überhaupt – verwendet wurden.
Demonstrierende, Medienschaffende und Aktivisten haben jedoch die Möglichkeit geäussert, dass religiöse Extremisten es auf Schulmädchen abgesehen haben könnten, um sie vom Schulbesuch abzuhalten. Ob die Angriffe vom Regime orchestriert sind, ist noch nicht geklärt. Allerdings hat Iran selbst die Taliban im benachbarten Afghanistan aufgefordert, Mädchen und Frauen wieder zur Schule gehen zu lassen.
Am Dienstag tauchten im Internet Videos und Fotos auf, die Demonstrationen von Lehrpersonen in mehreren iranischen Städten zeigen. Auf weiteren Videos ist zu sehen, wie iranische Sicherheitskräfte Pfefferspray und Wasserwerfer einsetzen, um die Demonstrationen zu zerstreuen.
فوری؛
— Omid Barin | امید برین (@barin_omid) March 7, 2023
فریاد #ژن_ژیان_ئازادی یکبار دیگر در سنندج طنین انداز شد. تجمع معلمان سنندجی در اعتراض به حملات شیمایی بە مدارس.#کردستان
مسمومیت_دانش_آموزان pic.twitter.com/99ZrwlDk8m
Lehrpersonen würden seit Monaten von Sicherheitskräften angegriffen und Verhaftungen würden angedroht, schreibt die Nachrichtenagentur AP. Bedroht würden sie, weil sie angesichts des Zusammenbruchs der iranischen Währung ihre langjährigen Forderungen nach Gehaltserhöhungen wieder aufgenommen hätten.
بر اساس ویدیوهای رسیده، روز سهشنبه ۱۶ اسفندماه نیروهای امنیتی به تجمع معلمان و والدین معترض به حملات شیمیایی در سنندج گلوله ساچمهای شلیک کردهاند pic.twitter.com/Uybxyv0LDw
— ايران اينترنشنال (@IranIntl) March 7, 2023
Die iranischen Staatsmedien erwähnten weder die Demonstrationen vom Dienstag noch den Einsatz von Sicherheitskräften, die die Demonstranten vertrieben.
Die iranische Regierung hatte die Berichte über die mutmasslichen Vergiftungen zunächst ignoriert, sah sich aber zunehmend dem Druck der Öffentlichkeit ausgesetzt – und hat während der letzten Tage reagieren müssen. Am Montag sagte der Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei, dass alle Schuldigen, die mit den mutmasslichen Vergiftungen in Verbindung stehen, zum Tode verurteilt werden sollten – da sie ein «unverzeihliches Verbrechen» begangen hätten.
Das iranische Regime lässt die Vorfälle und Vorwürfe darum derzeit untersuchen. Mitglied der Untersuchungskommission ist der Parlamentarier Mohammed Hassan Asefari. Dieser sagte am heutigen Dienstag der teilstaatlichen Nachrichtenagentur ISNA, dass sich bis zu 5000 Schülerinnen in 230 Schulen in 25 der 31 iranischen Provinzen über Krankheiten beschwert hätten. In keinem anderen offiziellen Bericht wurden bisher so hohe Zahlen genannt.
Der stellvertretende Innenminister Majid Mirahmadi sagte am Dienstag im iranischen Staatsfernsehen, die Behörden hätten im Kontext der Vergiftungen eine nicht näher bezeichnete Zahl von Verdächtigen festgenommen.
Doch Iran untersucht nicht nur die Vergiftungen, sondern auch die Berichterstattung über die Vergiftungen. Der Teheraner Chefankläger Ali Salehi sagte, die Behörden hätten damit begonnen, Anklagen gegen Journalisten zu erheben, die die Berichterstattung über die mutmasslichen Vergiftungen angeführt hatten. Ein Anklagepunkt lautet «unwahre Behauptungen und völlig falsche Aussagen», so Salehi laut der iranischen Nachrichtenagentur Mizan.
Die Weltgesundheitsorganisation hat zwischen 2009 und 2012 ein ähnliches Phänomen in Afghanistan dokumentiert. Damals wurden keine Beweise gefunden, dass das Regime, Extremisten oder sonst jemand Gift in Schulen anwandte. Die WHO erklärte damals, es handele sich offenbar um eine «psychogene Massenerkrankung».
(yam)