SP-Nationalrätin Anna Rosenwasser ist an der Sommersession im Bundeshaus, als ihr Handy vibriert.
Es ist eine Nachricht eines Familienmitglieds aus Israel. Rosenwasser, die jüdische Wurzeln hat, postet es auf Instagram. «Das war wahrscheinlich der persönlichste Beitrag, den ich je geteilt habe», sagt Rosenwasser zu watson.
Normalerweise halte sie sich zurück, wenn es um ihre eigene Familie gehe. Zu schnell werde das als politisches Statement gewertet – pro Israel, contra Palästina. «Aber ich habe es gepostet, weil ich mich einsam fühlte», sagt sie. «Und weil mich traurig macht, wie wir über Kriege reden.»
Ihre Story ruft Mitgefühl hervor – und Hass. Sie erhält antisemitische Nachrichten, Beleidigungen. «Seit eineinhalb Jahren ist das viel schlimmer geworden.» Aber auch ein Mensch mit Familie im Iran meldet sich – und sagt: Ich verstehe dich. «Das hat mir sehr geholfen. Es hat mir gezeigt: Ich bin nicht alleine.»
Seit der Nahost-Konflikt sich ausweitet – nicht nur zwischen Gaza und Israel, sondern auch dem Libanon und Iran – ist der digitale Diskurs eskaliert. TikTok-User jubeln Raketen zu, die israelische Wohnblöcke und Krankenhäuser treffen. Menschen, die noch letzte Woche um palästinensische Kinder trauerten, feiern nun Bilder brennender Tel-Aviv-Vororte. Die Dynamik sei nicht neu. Aber sie sei brandgefährlich. Rosenwasser sagt:
Sie widerspricht der Idee, man müsse sich entscheiden – pro Palästina oder pro Israel. «Ich bin pro Menschlichkeit. Dass wir in der Schweiz uns für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einsetzen müssen und dass Zivilistinnen geschützt werden – und zwar überall: in Gaza, in Israel, und in Iran.»
Rosenwasser hat die israelische Regierung immer wieder kritisiert. Sie hat Vorstösse mitunterzeichnet, die vom Bundesrat eine «klare Verurteilung von Kriegsverbrechen im Gazastreifen» fordern.
Gleichzeitig spricht sie sich für den Schutz der israelischen Zivilbevölkerung aus. So wie sie es für jede Zivilbevölkerung tut – überall dort, wo Menschen unter Beschuss geraten. Auch den Angriff Israels auf den Iran verurteilt sie – er verstosse gegen das Völkerrecht. Doch sie sagt:
Diese Unterscheidung – zwischen Regierung und Bevölkerung, zwischen Kritik und Entmenschlichung – werde in vielen Diskussionen ausgelassen. Dabei gehe es darum, dass jedes Menschenleben gleich viel Wert sei. «Ich wünsche keinem Menschen auf dieser Welt, jemals einen Raketenalarm erleben zu müssen. Oder dass er Hunger leidet, sein Haus zerbombt wird oder er fliehen muss», sagt Rosenwasser.
Sich Sorgen zu machen, um Familienmitglieder oder um unschuldige Zivilisten, sei keine Frage von Landesgrenzen, sondern von Menschlichkeit. Doch in der Öffentlichkeit werde dieses Gefühl oft gewertet, gewichtet, aufgerechnet. Wer sagt, er habe Angst um Verwandte in Israel, müsse sich erklären.
Als Politikerin anerkenne sie, dass die Machtverhältnisse im Krieg asymmetrisch seien. Sich angesichts der Gewalt in eine Ohnmacht verleiten zu lassen, führe «häufig zu schlechten Entscheidungen und Empathielosigkeit». Unschuldig daran seien die sozialen Medien nicht.
In den sozialen Medien würden Positionen gefordert, bevor man nachdenken könne. Sie belohnen Reaktion statt Reflexion, sagt Rosenwasser.
Als ehemalige Journalistin glaubt Rosenwasser an die Kraft der Einordnung. Und an die Notwendigkeit des Innehaltens. «Kriegsberichterstattung versetzt uns in Alarm. Aber gerade dann brauchen wir Kontext – nicht nur Schlagzeilen.»
Sie kritisiert Schweizer Medien, wenn «sie Kriegsverbrechen der israelischen Armee verharmlosen». Aber sie verteidigt den Beruf: «Verifizieren, kontextualisieren, einordnen – das ist der einzige Weg, dem Elend zu begegnen.» Was sie fordere, seien nicht weniger Emotionen. Sondern mehr Bewusstsein dafür, dass Gefühle nicht immer eine Meinung sein müssen.
Aber in menschenfeindliche Haltungen zu verfallen, nütze den Kriegsbetroffenen nichts. Anna Rosenwasser sagt nicht: Entscheidet euch für Israel. Oder für Gaza. Sie sagt: «Entscheidet euch für die Zivilbevölkerung. Für Empathie. Für Würde.»
Denn Mitgefühl sei das Letzte, was bleibe – und das Minimum an Menschlichkeit.
Wahre Worte. Und selbst wenn man eine Meinung hat, so ist diese nicht in Stein gemeisselt, sie kann sich in solch einem komplizierten Konflikt auch je nach Informationen und vorliegenden Fakten verändern.