Shira Kaplan ist in Herzlia nördlich von Tel Aviv aufgewachsen und hat wie die meisten säkularen Frauen in Israel Militärdienst geleistet. Dabei hat sie für den israelischen Geheimdienst «Unit 8200» gearbeitet. Dieser ist auf die Überwachung von Kommunikationskanälen spezialisiert und vergleichbar mit der amerikanischen NSA. Seit 13 Jahren lebt Kaplan in Zürich. Die 40-Jährige führt eine Cybersicherheitsfirma, mit der sie israelische Technologie in der Schweiz verkauft und in Start-ups investiert.
Wie verfolgen Sie den Krieg in Ihrer Heimat?
Shira Kaplan: Einen direkten Einblick erhalte ich über Gruppen der Social-Media-Plattform Telegram. Eine Flut von Videos zeigt Minute für Minute, was auf dem Boden passiert. Kombiniert mit vielen Whatsapp-Gruppen und Onlinemedien kann man so heute einen Krieg live verfolgen.
Sind Ihre Verwandten und Freunde in Sicherheit?
Ja. Wir Israeli sind aber sehr miteinander vernetzt. Wir haben alle Bekannte, die ermordet wurden, im Armee-Einsatz starben oder nach Gaza entführt worden sind.
Wie fühlen Sie sich?
Wie in einem Albtraum. Wir können nicht verstehen, wie diese Attacke möglich war. Sie hat uns komplett überrascht. Wir hatten noch nie in der Geschichte des israelischen Staates einen Tag mit so vielen Toten. Es war ein Massaker. Die Leute sind wütend, weil die Armee sechs Stunden für die Mobilisierung benötigte. Sie fühlen sich vernachlässigt und verraten. Alle fragen sich: Wie konnte das passieren?
Israel führt einige der besten Geheimdienste der Welt. Wieso haben diese den Angriff nicht kommen sehen?
Israel war beschäftigt mit internen Kämpfen. Der Feind hat das gesehen und ausgenutzt. Die Hamas sagten selber, sie hätten sich ermutigt gefühlt, weil die Israeli seit über 40 Wochen auf den Strassen demonstrieren. In dieser Situation gingen viele israelische Reservisten einfach nicht mehr in die Armee, weil sie die Regierung unter Druck setzen wollten. Unser Land war gespalten. So wurden wir schwach.
So erklären Sie, was strategisch falsch lief. Was aber lief taktisch falsch?
Es gibt nur eine Erklärung: Die Palästinenser müssen ein verschlüsseltes Kommunikationssystem programmiert haben, das wir bei der Überwachung komplett verpasst haben. Es gibt Hinweise, dass Russland die Palästinenser unterstützt hat. Vermutlich haben auch der Iran und Saudi-Arabien bei dieser technologischen Entwicklung mitgeholfen. Die Aktion wurde monatelang geplant, vermutlich länger als ein Jahr.
Kann es sein, dass die Geheimdienste zu stark auf technologische Überwachung fokussiert und die Arbeit mit menschlichen Quellen vernachlässigt haben?
Nein. Geheimdienste kommen auf unterschiedliche Arten an ihre Informationen. Die wichtigsten drei sind folgende. Erstens die Überwachung von Kommunikationskanälen (Signals Intelligence). Zweitens die Arbeit mit menschlichen Quellen (Human Intelligence). Drittens die Auswertung von öffentlich zugänglichen Informationen (Open Source Intelligence). Die israelischen Geheimdienste investieren in alle Bereiche. Wir haben Hunderte Agenten auf dem Boden, auch in Palästina.
Wie kann es denn sein, dass diese nichts gesehen oder gehört haben?
Das ist im Moment die Eine-Milliarde-Dollar-Frage. Darüber werden noch Bücher geschrieben und Filme gedreht werden. Im Moment ist es zu früh für eine Antwort. Derzeit liegen Leute verletzt in Spitälern oder sind als Geiseln im Gazastreifen gefangen.
Das Ereignis wird mit dem Terrorangriff 9/11 verglichen. Zurecht?
Der Angriff wird mit zwei Ereignissen verglichen. Die Überraschung ist ähnlich wie beim Jom-Kippur-Krieg, der ebenfalls an einem Feiertag ausbrach. Die Demütigung ist ähnlich wie beim Angriff auf die Twin Towers in New York. Der israelische Staat hat eine solche seit seiner Gründung vor 75 Jahren noch nie zuvor erlebt.
In Ihrer Jugend waren Sie an Bomben und Terroralarm gewöhnt.
Als Kind lebte ich einen Monat lang in einem Bunker, weil Saddam Hussein von Bagdad Raketen auf uns schoss. Wir trugen Gasmasken. Als Jugendliche wuchs ich in den 1990er-Jahren auf, als in Tel Aviv Busse explodierten. Klar: Wir wissen, was Krieg ist. Das aktuelle Massaker hat aber eine ganz andere Dimension.
Was hat sich verändert?
Wir Israeli haben in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, dass wir nicht alleine auf der Welt sind und uns anpassen müssen. Wir wurden ein bisschen wie Europäer, wir wurden höflich und gingen Kompromisse ein. Jetzt gelten aber wieder die Gesetze des Nahen Osten: die Macht des Stärkeren. Wir können nicht mehr akzeptieren, dass unsere Grenzgebiete ständig mit Attacken rechnen müssen. 3000 Raketenangriffe pro Tag sind nicht erträglich.
Was wird nun passieren?
Die Reaktion von Israel wird brutal ausfallen. Es werden Kinder und Zivilisten sterben. Das ist das Problem des Gazastreifens: Die Terroristen verstecken sich in Schulen und in zivilen Häusern. Es wird schmerzvoll zu sehen sein, wenn Tausende Tonnen Sprengstoff über sie niedergehen werden.
Fühlen Sie sich sicher in der Schweiz?
Wir müssen im Moment mit Angriffen auf der ganzen Welt rechnen. In Ägypten, in Alexandria, ist am Tag nach der Attacke ein Bus mit Israeli angegriffen worden. Wir wissen nicht, was nun passieren wird. Die Schweiz ist sicher. Aber Israeli müssen im Moment überall vorsichtig sein. (bzbasel.ch)
Die Schuld für die (leider) fehlgeschlagene Verteidigung trägt Netanjahu
Nur schon bei der Mobilisation der tausenden Kämpfer hätte doch irgendeiner der hunderten (!) Spione etwas mitbekommen müssen.
Das macht alles einfach keinen Sinn!
Die Geheimdienste waren also so sehr mit der Überwachung jener Mitbürger beschäftigt, die gegen die Beschränkung der Befugnisse des Obersten Gerichts und die Diktatorallüren von Netanjahu, seine neue Siedlungspolitik und die Machtgelüste der konservativen Geistlichkeit sind? Ja dann..
Die Unzufriedenheit sehr vieler Israelis hat die ganze Welt mitbekommen, nicht nur Hamas
Das rechtfertigt die Gräueltaten in keiner Weise, aber das Misstrauen Bibis gegen sein eigenes Volk gibt zu denken.