Der von Katar eingefädelte Geiseldeal zwischen Israel und der Hamas ist bereits in vollem Gange. Am Freitag wurden die ersten Gefangenen ausgetauscht. Im Rahmen der viertägigen Feuerpause im Gazastreifen sollen insgesamt 50 der etwa 240 Hamas-Geiseln freigelassen werden. Im Gegenzug sollen 150 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freikommen.
Bei einem Gefangenenaustausch im Jahr 2011 kam, neben 1'026 anderen palästinensischen Gefangenen auch der amtierende Hamas-Chef des Gazastreifens, Jahia al-Sinwar, frei. Er soll federführend für die Angriffe vom 7. Oktober gewesen sein.
Unter den palästinensischen Gefangenen, die von Israel wahrscheinlich frei gelassen werden, befinden sich auch 33 Frauen und eine Vielzahl an Jugendlichen zwischen 14 bis 18 Jahren. Israel hatte zuvor bereits eine Liste mit 300 möglichen Austauschgefangenen bekannt gegeben. Doch weshalb sind die Palästinenser in israelischer Gefangenschaft? Wie kommt es, dass manche von ihnen bisher nicht verurteilt sind? Und wieso befinden sich Kinder in Haft?
Liest man sich die Auflistung der von Israel veröffentlichten Gefangenen durch, die für einen möglichen Austausch bereitstünden, fällt auf, dass gegen einige von ihnen bisher keine Verurteilung vorliegt. Hintergrund ist, dass Israel Menschen in «Sicherheitshaft», auch «Verwaltungshaft» genannt, nehmen kann. Diese Haft wird bei Menschen aus dem Westjordanland angewandt.
Laut der israelischen Menschenrechtsorganisation HaMoked befinden sich derzeit insgesamt 437 Menschen in einer solchen Haft. 100 der Inhaftierten befinden sich seit über einem Jahr ohne Verurteilung im Gefängnis, heisst es. Die Menschenrechtsorganisation kritisiert, dass die Verwaltungshaft vom israelischen Militär quasi beliebig verlängert werden kann und dass Inhaftierte keine Chance auf eine Verteidigung durch einen Anwalt bekommen. Die Anklagen beruhen zumeist auf Verschlusssachen.
Das bedeutet, dass vermeintliche Beweise und Dokumente der Geheimhaltung unterliegen. Diese werden also nicht öffentlich gemacht, eine juristische Verteidigung und Nachvollziehbarkeit der Verfahren ist somit nicht möglich. Auf internationaler Ebene regelt die Genfer Konvention die Rechtmässigkeit bei Verfahren nach Militärrecht. «Kriegsgefangene haben, gleichgültig, ob sie Zivilisten oder Militärangehörige sind, das Recht auf ein gerechtes und ordentliches Verfahren», heisst es beispielsweise in Artikel 10 des III. Genfer Abkommens. Dieses enthält auch das Recht auf juristische Verteidigung.
Auch die 24-jährige Firoz Faiz Mahmoud Albo könnte im Zuge des Austauschs freikommen. Sie sitzt seit dem 9.8.2021 ohne Verurteilung in Haft. Ihr wird «versuchte schwere Körperverletzung und Besitz eines Messers» vorgeworfen. Mit dem Messer soll sie am Tag seiner Festnahme versucht haben, einen Soldaten zu erstechen.
In der Liste findet sich auch Palästinsa Farid Abdellatif Najam. Der 37-Jährigen wird vorgeworfen, Waffen für eine Terrorzelle bereitgestellt zu haben. Sie soll ausserdem Mitglied der Fatah sein, wie es in der Liste aus Israel heisst. Sie sitzt seit dem 22. August 2022 in israelischer Haft. Eine Verurteilung erfolgte seit über einem Jahr nicht. Sie gilt lediglich als verhaftet. (Palästina wird im Nahen Osten auch als Name für Personen verwendet)
Den 300 Inhaftierten, die möglicherweise ausgetauscht werden, werden verschiedene Straftaten vorgeworfen. So findet sich bei 71 von ihnen der Vorwurf des «Steinewerfens» wieder. Sieben der Inhaftierten sollen einen Selbstmordanschlag vorgehabt haben. 63 der Personen wird eine Zugehörigkeit zur Hamas zugesprochen.
62 eine Zugehörigkeit zur Fatah. 31 werden dem Islamischen Dschihad zugerechnet. 12 der Inhaftierten sollen an einem Angriff mit Schusswaffen beteiligt gewesen sein, oder einen solchen geplant haben.
Dem 18-jährigen Abida Atef Hasan Al-Adoui wird beispielsweise das Werfen von Steinen vorgeworfen. Er wurde am 17.8.2023 verhaftet, ein Urteil ist bisher noch nicht ergangen. Dem 16-jährigen Abdel Rahman Omar Azzat Hanafia wird hingegen die Teilnahme an einem militärischen Angriff vorgeworfen.
Er soll nach israelischer Darstellung auch an Schusswaffenangriffen auf israelische Soldaten beteiligt gewesen sein und Brandsätze gebaut haben. Ausserdem werden ihm Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt. Er wurde 11. September inhaftiert, eine Verurteilung erfolgte gegen den Jugendlichen bisher nicht.
In der Liste finden sich auch 123 Personen, die unter 18 Jahre alt sind. Auch fünf 14-Jährige sind unter ihnen. Die Tatvorwürfe reichen hier von «Steine auf Sicherheitsfahrzeuge werfen» bis hin zu «werfen von Molotowcocktails».
Das israelische Militärrecht, nach dem die Streitkräfte im Westjordanland vorgehen, sieht eine Strafmündigkeit ab 14 Jahren vor. Zwischen 14 und 18 Jahren sollen den Beschuldigten laut Gesetz erweiterte Rechte, wie beispielsweise ein Jugendrichter und anwaltlicher Beistand, zukommen.
Die Nichtregierungsorganisation Amnesty International wirft Israel immer wieder Verstösse gegen internationales Recht bei der Inhaftierung von Minderjährigen vor. Dass Israel nicht das Alter beim Begehen einer mutmasslichen Straftat heranzieht, sondern das Alter bei der Verurteilung, ist einer der Kritikpunkte. Unabhängig überprüfen liessen sich die Einhaltungen der Rechte zuletzt nicht.
Im Jahr 2016 hat der Knesset eine Gesetzesänderung beschlossen, die es ermöglicht im Fall von Kapitalverbrechen auch Jugendliche ab 12-Jahren mit Gefängnisstrafen zu belegen.