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Das erwartet Israel in Gaza-Stadt

Grosseinsatz läuft: Das erwartet die Israelis in Gaza-Stadt

Nichts ist so blutig und zerstörerisch wie der Ortskampf in dicht besiedelten Städten. Experten zeigen auf, wieso beim laufenden Einmarsch der israelischen Armee in den Gazastreifen zahlreiche Vorteile aufseiten der Hamas-Terroristen liegen würden.
28.10.2023, 18:2629.10.2023, 14:49
Bojan Stula / ch media
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Drei Wochen nach dem Massaker der Hamas-Terroristen ist die lange angekündigte israelische Bodenoffensive in den Gazastreifen allem Anschein nach gestartet worden. Nach mehreren nächtlichen Vorstössen im Kommandostil setzte Israel in der Nacht auf Freitag erstmals auch im grösseren Umfang Kampf- und Schützenpanzer ein.

epa10944370 Smoke rises from the northern part of the Gaza Strip as a result of an Israeli airstrike, at an undisclosed location near the border with Gaza, in Israel, 28 October 2023. The Israel Defen ...
Rauchwolken nach Artillerieeinschlägen steigen am Samstag über Gaza-Stadt auf.Bild: keystone

In der Nacht auf heute Samstag drangen gemäss unterschiedlichen Informationen dann noch grössere Truppeneinheiten in den Norden des Gazastreifens ein, die sich seither dort im Gebiet von Gaza-Stadt festgesetzt haben. Über dem palästinensischen Gebiet steigen seither Rauchwolken auf, aus Gaza-Stadt dringt Gefechtslärm.

Am Samstagmittag kündigte der israelische Verteidigungsminister Joav Galant den Beginn einer neuen Phase im Krieg gegen die Hamas an. «Gestern Abend hat der Boden in Gaza gebebt», sagte. «Wir haben oberhalb und unterhalb der Erdoberfläche angegriffen. Die Anweisungen an die Truppen sind klar. Die Kampagne wird bis auf Weiteres weitergehen.»

Galant deutete an, dass das Militär bald zu einer noch umfassenderen Bodenoffensive im Norden des Gazastreifens übergehen könnte. Wenig später richtete der oberste Armeesprecher, Konteradmiral Daniel Hagari, einen dringenden Video-Appell an die Bevölkerung des Gazastreifens, den Nord-Teil und die Gaza-Stadt «temporär zu verlassen».

Ortskämpfe sind besonders blutig und verlustreich

Offenbar nimmt die israelische Armeeführung die nächste Phase des Gegenschlags gegen die Hamas mit grossem Selbstvertrauen in Angriff. Jedoch wäre durchaus auch Vorsicht geboten.

Denn wenn die Kriegsgeschichte etwas gelehrt hat, dann dies: «Urban Warfare», also Häuser- und Strassenkampf, zählt nicht nur zu den besonders schwierigen, sondern auch brutalsten und blutigsten Militäroperationen. Die Einsätze dauern in der Regel lange, kosten überproportional viele Menschenleben und richten Sachschäden in Milliardenhöhe an.

Für einen Beleg muss man nicht allzu weit in die Vergangenheit blicken. In der neun Monate dauernden Schlacht ums irakische Mossul wurden zwischen 2016 und 2017 nach Expertenschätzungen bis zu 17'000 Terroristen des Islamischen Staats getötet. Die Rückeroberung der am Ende weitgehend zerstörten Stadt kostete mindestens 9000 Zivilisten und 1000 Soldaten der Anti-IS-Koalition das Leben.

Militäranalysten ziehen Mossul als aktuellsten und passendsten Vergleich herbei, was die israelischen Streitkräfte in der nun begonnenen Schlacht um Gaza-Stadt erwarten dürfte. Dabei verdienen es folgende Merkmale, hervorgehoben zu werden.

Mangelnde Vorbereitung, fehlende Erfahrung

John Spencer, weltweit führender Experte in Sachen Häuserkampf, stellt in seinem Standardwerk «Understanding Urban Warfare» fest: Nicht nur ist diese die zerstörerischste Form der Kriegsführung, sondern auch jene, auf die in der Regel Offiziere und Soldaten am wenigsten gut vorbereitet sind. Das Fachportal «Military Times» zitiert den Irak-Veteranen Raphael Cohen, der feststellt: Israel habe schon lange keinen derartigen Kampf in dieser Grössenordnung mehr ausgetragen.

Damit impliziert der Militärexperte: Die israelischen Soldaten wüssten kaum, was ihnen im Gazastreifen bevorsteht. «Ein bereits blutiger Kampf wird nur noch blutiger werden», warnt Cohen. Spencer dagegen weist darauf hin, dass es unter den höheren israelischen Offizieren viele gäbe, die genau diese Erfahrungen als Soldaten selber gemacht haben und sich bereits seit Jahrzehnten mit der Lage in Gaza befassen.

Zudem verfüge die Israeli Defence Force (IDF) über besonders gut ausgebildete Eliteeinheiten; wie etwa die auf Tunnelkampf und Untergrundsprengungen spezialisierten «Yahalom» («Wiesel»)-Kampfpioniere. Mit jeder Kommandoaktion in den Gazastreifen wächst die Erfahrung dieser Truppenteile. Ebenso verdichten sich die Aufklärungsresultate, wo die Hamas am härtesten zu treffen sei.

Der Verteidiger ist im Vorteil

Gemäss Spencer lautet ein weiterer Grundzug von Urban Warfare: Der Verteidiger ist immer im Vorteil; im Fall von Gaza-Stadt die Hamas. Diese habe jahrelang Zeit gehabt, ihre Stützpunkte und Tunnelnetzwerke auszubauen. Gerade der aktuelle Krieg in der Ukraine zeige, dass es manchmal Wochen und sogar Monate gedauert hat, bis der Angreifer ein einziges, gut befestigtes Haus in Bachmut oder Awdijiwka erobern konnte.

Unterirdische Gänge dienen den Verteidigern, um rasch abzutauchen und an anderer Stelle wieder zuzuschlagen. Durch Sichtlöcher lässt sich der Eindringling aus dem Hinterhalt beschiessen, ohne selber ein Ziel zu bieten. Strebe jeder Angreifer in offener Feldschlacht eine Überlegenheit von 3:1 an, sei im «Beton-Dschungel» des Häuserkampfs ein Verhältnis von bis zu 10 Angreifern auf 1 Verteidiger notwendig, um siegen zu können, hält John Spencer fest.

Rein nummerisch kann Israel diese Einsatzmenge jetzt aufbringen. Den offiziell bis zu 360'000 mobilisierten Armeeangehörigen stehen maximal 40'000 bewaffnete Palästinenser entgegen.

US-Kriegsveteran Ozzie Martinez berichtet in der «Military Times» über seine Erfahrung während der Strassenkämpfe im irakischen Fallujah 2004: «Wir standen vor einem Haus und wurden daraus beschossen. Dann rückten wir vier, fünf Häuser vor und wurden erneut beschossen, wie es schien von derselben feindlichen Gruppe.»

Schuttberge und Trümmerreste verschaffen einerseits den Verteidigern zusätzliche Deckung und Möglichkeiten auf schnelle Stellungswechsel, behindern anderseits den Angreifer beim Vorrücken und machen Strassen für dessen Panzer und Fahrzeuge unpassierbar. Überraschende Angriffserfolge seien dadurch kaum möglich.

Verschiedene Dimensionen überfordern die Angreifer

«Eine Stadt ist das schlimmstmögliche Kampfgebiet», warnt der ehemalige US-Marines-Oberstleutnant und Militäranalyst Dakota Wood: «Alles ist dreidimensional.» Offiziere und Soldaten müssten sich auf den Kampf in die Höhe, unter die Erde, in die Nähe und Weite einstellen; und dies oftmals gleichzeitig, was überfordernd wirke.

Zu allem Überdruss lauern auch noch unter jedem Stein, hinter jeder Mauer Minen und Sprengfallen. Strassenschluchten werden für vorstossende gepanzerte Fahrzeuge zu Todeszonen, da sie von oben herab mit Panzerabwehrraketen abgeschossen werden, welche die dünnere Dachpanzerung durchschlagen.

US-Veteran Ozzie Martinez erinnert sich an die enorme psychische Belastung, die «Urban Warfare» seinen Kameraden in Fallujah abverlangte. «Alles ist so intensiv, es gibt kein Time-out. Manche meiner Kameraden verfielen für Tage in eine Art Schockstarre.»

Zivilisten werden als menschliche Schutzschilder missbraucht

Der schlimmste Aspekt im Ortskampf aber ist die zwangsläufige Allgegenwart vom Zivilistinnen und Zivilisten. In Gaza-Stadt hat die Hamas gezielt in und um Spitäler, Moscheen und Schulen militärische Stützpunkte errichtet, sagt John Spencer in seinem Urban Warfare Project Podcast. Ganz zu schweigen vom schon oft zitierten, weit verzweigten Tunnelsystem unterhalb der Stadt.

Zudem hätten die Hamas-Terroristen eine lange Vorgeschichte, Zivilpersonen, sprich palästinensische Landsleute oder israelische Geiseln, als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Dies betont Bradley Bowman vom US-Thinktank «Foundation for Defense of Democracies». Unter diesen Umständen werde es für die israelische Armee enorm schwierig werden, hohe zivile Verluste zu vermeiden. Bereits der bisherige Kriegsverlauf zeigt dies in erschreckendem Ausmass.

Die Hamas hingegen kann nach jedem weiteren getöteten Zivilisten noch schriller ihre Propaganda befeuern und zur Täter-Opfer-Umkehr blasen. Denn die Terrororganisation weiss genau: Nichts erhöht schneller und stärker den internationalen Druck auf Israel, einen Waffenstillstand einzugehen, als möglichst viele zivile Opfer unter den Palästinensern und Schreckensbilder von Toten und zerstörten zivilen Einrichtungen. (aargauerzeitung.ch)

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110 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MasterMic
28.10.2023 18:33registriert August 2023
Traurige Geschichte! Schlimm finde ich Erdogans Aussage die Hamas seien Befreier, keine Terroristen! Das ist ekelhaft!
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FP
28.10.2023 19:29registriert Mai 2022
So wie es aussieht, ist das für Israel der einzige Weg sich zu verteidigen,solange der Iran, der als Drahtzieher gilt, weite und weiter macht wird es im nahen Osten nie Frieden geben. Die Iranische Führung und die Russische Führung verkörpern das Böse.
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Anunnaki Project
29.10.2023 02:14registriert Oktober 2023
Die Mission wird sicher sich sicher alles andere als einfach gestalten.
Jedoch wurden die israelischen Soldaten ja während ihrer Ausbildung exakt auf solche Szenarien vorbereitet und sind alles andere als planlos.

Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass die IDF soviele Geiseln wie möglich befreien wird und dabei so wenig Unschuldige wie möglich zu schaden kommen ❤️🙏..!!

(Was ich den Hamas Terroristen wünsche, darf ich hier leider nicht schreiben 😤..)
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