In der norditalienischen Gemeinde Sant'Angelo Lodigiano nahe Mailand ist am Sonntag im Fluss Lambro die Leiche einer Frau gefunden worden. Diese Nachricht sorgt landesweit für Schlagzeilen: Wie die Nachrichtenagentur ANSA berichtet, handelt es sich bei der Toten um Giovanna Pedretti, Besitzerin des Restaurants «Le Vignole», das nur unweit des Flusses liegt.
Die 59-jährige Gastronomin war in den letzten Tagen für ihre Reaktion auf eine diskriminierende Äusserung gefeiert worden, ehe sie selbst in die Kritik geraten war. Das ist passiert.
Am Donnerstagmittag veröffentlicht die «Pizzeria Le Vignole» einen Post auf Facebook. Der Post zeigt eine Google-Bewertung, die das Restaurant zuvor erhalten hatte, sowie dessen Antwort darauf.
In der Bewertung erhält «Le Vignole» nur einen von fünf möglichen Sternen. Und das, obwohl der anonymisierte Besucher von einer «exzellenten» Pizza und einem «hervorragenden» Dessert schreibt. Grund für seine schlechte Bewertung ist aber nicht das Essen, sondern das Klientel der Pizzeria. So heisst es:
Diese Kritik liess «Le Vignole» nicht auf sich sitzen. Auch die Antwort des Restaurants ist auf dem Facebook-Post ersichtlich – unterzeichnet von Besitzerin Giovanna Pedretti. Diese bedankt sich für die Rückmeldungen, führt aber aus:
Der Post und vor allem Pedrettis Antwort schlägt auf Facebook hohe Wellen. Der Post wird fast 1500 Mal kommentiert und knapp 800 Mal geteilt. Der Grundtenor: Das Restaurant wird für seinen Umgang mit der diskriminierenden Kritik gefeiert. «Brava», wird Pedretti von zahlreichen Usern gelobt, «grossartige Antwort», schreiben weitere.
Durch die zahlreichen Reaktionen auf Social Media verbreitet sich die Geschichte im ganzen Land. Auch italienische Medien werden darauf aufmerksam und kontaktieren die Gastronomin. «Ich habe mich entschieden, diese Rezension zu teilen, um diese traurige Sache öffentlich zu machen», erklärt sie gegenüber dem «Corriere della Sera». «Ich bin überzeugt, dass es nötig ist, mehr Menschlichkeit zu zeigen auf dieser Welt.»
Am Abend erreicht die Geschichte sogar die nationale Politik. Alessandra Locatelli, die italienische Ministerin für Behinderungen, lobt Pedretti und ihren Ehemann für ihren Einsatz öffentlich:
Pedrettis Status als Heldin währt aber nicht lange. Am Samstag meldet sich Lorenzo Biagiarelli, ein bekannter italienischer Blogger und Koch, zum Vorfall zu Wort. «Die Nachricht des Tages wäre eigentlich gar keine Nachricht», schreibt er auf Instagram. Seine Meinung zur problematischen Rezension:
Biagiarelli führt gleich mehrere Punkte aus, um seine These zu untermauern. So stellt er fest, dass die Schriftart sowohl der Rezension als auch der Antwort eine andere seien als bei anderen Google-Rezensionen. Weiter meint er, die Schreibstile der Rezension und Antwort würden sich auffällig gleichen – so wird in beiden nach einem Punkt am Ende eines Satzes klein anstatt gross weitergeschrieben. Und was Biagiarelli ebenfalls auffällt: Die Rezension soll schon einmal fast identisch bei einem anderen Restaurant aufgetaucht sein.
«Sollte dieser Post wirklich ein Fake sein, hätte dies einige unbequeme Tatsachen zur Folge», schreibt Biagiarelli. «Einerseits wäre Diskriminierung zu Marketingzwecken verwendet worden, andererseits würde dies zeigen, dass die Kontrolle aufseiten der Medien inexistent war.» Geteilt wird Biagiarellis Ansicht auch von dessen Freundin Selvaggia Lucarelli, die als Journalistin arbeitet.
Auch Biagiarellis Post sorgt in der italienischen Presse für Aufruhr. Und Pedrettis Status als Heldin beginnt immer mehr zu bröckeln. Was die Lage für sie auch nicht besser macht: Die vermeintliche Rezension ist auf Google mittlerweile nicht mehr auffindbar.
So wird Pedretti erneut von den Medien konfrontiert. Sie erklärt, die Rezension sei auf Google gelöscht worden. Sie habe einen Screenshot davon gemacht und diesen aber mittlerweile wieder gelöscht, um wieder mehr Speicherplatz zu haben. Auf die Vorwürfe von Biagiarelli hat sie aber keine Antworten. «Ich weiss es nicht», sagt sie einem Journalisten der Tagesschau «TG3», als dieser sie mit den Vorwürfen konfrontiert. «Ich habe keine Antwort.» Und weiter:
Am Samstagnachmittag wird Pedretti zudem von ihrem Kritiker Biagiarelli persönlich kontaktiert. Der Koch berichtet, mit der 59-Jährigen telefoniert zu haben. «Ich habe sie gefragt, ob der Screenshot echt ist», berichtet er, «sie hat gesagt, er sei echt, aber dass sie ihre Antwort vergrössert habe (also bearbeitet)». Weiter habe er sie darauf aufmerksam gemacht, dass die Schriftart nicht mit sonstigen Google-Rezensionen übereinstimme, worauf sie gesagt habe, sie sei zur Polizei gegangen, um sich in dieser Angelegenheit zu schützen und ihre eigene Version der Dinge vorzulegen.
Inzwischen hat der Wind auf den sozialen Medien komplett gedreht. Pedretti wird mit harscher Kritik konfrontiert. «Ein armer Trottel, der hoffte, dass auch die anderen Trottel seien», schreibt ein User. Ein anderer spekuliert: «Das war Opportunismus: Ihre Seite hatte sehr schlechte Feedbacks, weil sie keine Hunde zulassen. Nun haben sie den Weg gefunden, das Mitgefühl der Leute zu ihrem Vorteil auszunutzen.» Ob dies stimmt, darf bezweifelt werden. Gemäss italienischen Medienberichten war das «Vignole» gut gefüllt, auf Google und Facebook sind die Rezensionen hervorragend.
Am Sonntag verschwindet Pedretti schliesslich. Ihr Ehemann schlägt Alarm, doch es ist zu spät. Ein paar Stunden später wird die mutmassliche Leiche der 59-Jährigen im Fluss gefunden, unweit von ihrem Auto. Die genaue Todesursache ist noch unklar und soll durch eine Autopsie herausgefunden werden. Medien berichten von einem mutmasslichen Suizid. Weiter wird bekannt, dass es in Pedrettis Familie eine Vorgeschichte mit Depressionen gibt. Laut der Agentur «LaPresse» hatte sich ihr Bruder vor gut zehn Jahren selbst das Leben genommen.
Der Tod Pedrettis löst in Italien eine neue Kontroverse aus. Die Rechtsparteien Fratelli d'Italia und Lega äusserten sich gleich mehrfach zum Fall und setzten heftige Kritik an Biagiarelli, Lucarelli und den Medien ab – insbesondere an der italienischen Tagesschau «TG3». «Die Art, wie der Fall behandelt wurde, hatte angesichts des wahrscheinlichen Selbstmords der Dame beunruhigende Auswirkungen», so Fratelli-Politiker Francesco Filini. Ein öffentlicher Sender sollte nicht Leute an den Pranger stellen: «Solche Sachen müssen aufhören, denn es geht um Menschenleben.»
Das Team vom «TG3» wehrt sich gegen diese Vorwürfe. «‹TG3› hat es nach den aufgekommenen Zweifeln als nötig erachtet, die Betroffene erneut zu interviewen und ihr, wie wir es immer machen, die Möglichkeit gegeben, sich zu erklären», heisst es in einem Communiqué. Der Umgangston sei dabei stets freundlich geblieben. «Wir sind tief betroffen von dieser Tragödie.» Zu den Vorwürfen aus der Politik schreibt «TG3», man könne diese nun «entschieden zurückweisen».
Der Blogger Biagiarelli und die Journalistin Lucarelli werden derweil in den sozialen Medien beschimpft. «Ihr habt Giovanna auf dem Gewissen», schreibt ein User. Ein anderer wirft dem Paar vor, die Gastronomin zum Suizid gedrängt zu haben. Später verschärft sich der Ton. Lucarelli veröffentlicht auf Instagram Screenshots von Morddrohungen, die sie erhalten hat. «Ich steche dich ab, wenn du es am wenigsten erwartest», ist auf einem zu lesen. Und weiter:
Und auch Pedrettis 28-jährige Tochter schiesst gegen Lucarelli: «Vielen Dank, werte ‹Dame›, dass Sie meine Mutter durch die Medien massakriert haben. Suchen Sie sich ruhig ihr nächstes Opfer.»
Das Paar will von diesen Vorwürfen nichts wissen. «Es tut mir extrem Leid», so Biagiarelli. Aber: «Wenn jede Person, die versucht, Wahrheit in eine Geschichte reinzubringen, solche Folgen erwarten müsste, können wir gleich alle Medien schliessen.»
Während die Polizei die tatsächliche Todesursache Pedrettis noch untersucht, könnte der Fall in der Politik schon unmittelbare Folgen haben. Thema ist am Mittwoch vor allem der Umgang auf den sozialen Medien. Senat-Mitglied Carlo Calenda kündigte einen Vorstoss an, der verhindern soll, dass Leute anonym auf Social Media unterwegs sind.
Es zeigt unterm Strich, dass so einiges im argen läuft. In alle Richtungen.