«Fine pena mai» (zu deutsch: «Ende der Strafe nie»): So lautete das Urteil für Beniamino Zuncheddu vor über 32 Jahren. Die erbarmungslose – und umstrittene – Urteilsformel des italienischen Strafrechts wird in der Regel nur auf besonders gefährliche Schwerverbrecher und auf Mafiosi angewendet, die nicht geständig sind.
Für sie endet die Strafe tatsächlich erst mit dem Tod hinter Gittern, während «normale »lebenslängliche Strafen auch in Italien nie wirklich lebenslänglich sind, sondern höchstens 30 Jahre dauern. Aber Zuncheddu, ein einfacher sardischer Schäfer mit Grundschulabschluss, hat immer seine Unschuld beteuert, bis heute, über drei Jahrzehnten später. Kein Geständnis, und deshalb: «Fine pena mai».
Die Tat, für die Zuncheddu verurteilt wurde, ging als «Blutbad von Sinnai» in die Kriminalgeschichte Sardiniens ein: In der Nähe des Ortes Sinnai im kargen, hügeligen Hinterland von Cagliari wurden im Januar 1991 drei Hirten in einem Schafstall erschossen. Ein vierter überlebte schwer verletzt und sollte später als Augenzeuge die zentrale Rolle in dem Mordprozess gegen Zuncheddu spielen.
Assolto dopo oltre 30 anni in carcere Beniamino Zuncheddu: "La fine di un incubo" pic.twitter.com/tqHtsI5FZL
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Zunächst hatte der Zeuge zu Protokoll gegeben, dass der Täter mit einem Nylonstrumpf maskiert gewesen sei und dass er ihn deshalb nicht habe erkennen können. Später änderte seine Aussage: Als ihm ein Polizeiinspektor ein Foto von Zuncheddu vorlegte, konnte er diesen plötzlich als Täter identifizieren.
Die Gefängnistüren schlossen sich hinter Zuncheddu, die Jahre vergingen – bis sich ein junger Anwalt, der den Unschuldsbeteuerungen des Schäfers glaubte, des Falls annahm. Er recherchierte im Umfeld von Sinnai und stellte fest, dass kurz vor der Bluttat im Schafstall im gleichen Gebiet eine Entführung stattgefunden hatte.
Kidnapping war damals auf Sardinien für Kriminelle ein einträgliches Geschäft gewesen, Entführungen gehörten beinahe zur Tagesordnung. Der Anwalt kam zum Schluss, dass die drei Ermordeten irgendwie in die fragliche Entführung verwickelt gewesen seien und möglicherweise einen Anteil von dem Lösegeld verlangt hatten. Sie seien für die Entführer unbequem und deshalb von einem Profi-Killer erschossen worden.
Das war natürlich eine ganz andere Geschichte als diejenige vom ungebildeten jungen Hirten, der die drei anderen Schäfer wegen eines nichtigen Streits um ein paar Schafe und Kühe auf archaische Weise umgebracht haben soll. Der Anwalt erzählte seine Version im Jahr 2016 der damaligen Generalstaatsanwältin von Cagliari, Francesca Nanni.
Sie teilte die Zweifel des Anwalts an der offiziellen Version. Und nicht zuletzt kam es ihr auch merkwürdig vor, dass Zuncheddu weiterhin dabei blieb, dass er die Tat nicht begangen habe – obwohl er mit einem Geständnis angesichts seiner inzwischen sehr langen Haftdauer und seiner einwandfreien Führungszeugnisse schon am nächsten Tag auf freien Fuss gesetzt worden wäre.
Staatsanwältin Nanni leitete nun ihrerseits neue Ermittlungen ein, überwachte Telefonate, liess Wohnungen und Autos verwanzen – und verhörte auch noch einmal den Augenzeugen. Und dieser gab schliesslich zu, dass er Zuncheddu tatsächlich zu Unrecht beschuldigt habe.
Er sei von dem Polizeiinspektor, der offenbar einen schnellen Fahndungserfolg verbuchen wollte, unter Druck gesetzt worden, Zuncheddu als Täter zu identifizieren. Damit war der Weg frei für den Revisionsprozess in Rom, der am Samstag mit dem spektakulären Freispruch für Zuncheddu endete: Er habe die Tat nicht begangen, erklärten die Berufungsrichter einstimmig.
«Sie haben mir alles gestohlen, mein Leben – obwohl ich nie einer Fliege etwas zuleide getan habe», erklärte Zuncheddu nach dem Freispruch. «Für mich geht heute ein Albtraum zu Ende.» Bewegt zeigte sich auch Staatsanwältin Nanni, die den Revisionsprozess gegen tausend bürokratische Hürden durchgeboxt hatte: «In unserem Beruf muss man sich einen seelischen Panzer zulegen, aber das funktioniert nicht immer.
Ich habe nach dem Urteil geweint.» Der sardische Hirte, inzwischen 58 Jahre alt, kann nun mit einer staatlichen Entschädigung rechnen. Deren Höhe wird zu einem späteren Zeitpunkt festgelegt. (aargauerzeitung.ch)