Der Lokalpolitiker Cees Bos aus der niederländischen Stadt Utrecht wird etwas nervös, so schreibt er in einem Tweet. Grund für seine Nervosität ist ein Text, der in einer Ausstellung im Foyer des Provinzgebäudes hängt. Auf vier Tafeln skizziert dort die Provinzverwaltung Utrecht ihre Gedanken zum Wohnviertel der Zukunft. Bos hat den Text zum Thema «Gezonde wijk» («gesundes Wohnviertel») fotografiert und per Twitter verbreitet – und damit einen Sturm im Twitter-Wasserglas verursacht.
Ik krijg toch een beetje de kriebels als ik zie wat de @ProvUtrecht als definitie hanteert van een gezonde wijk. Brrr....🤔 Als dit allemaal doorgaat ga ik verhuizen naar Almelo. pic.twitter.com/mOJXJBLoDn
— Cees Bos EHP (@CeesBos) February 12, 2020
«Was den Leuten auffällt, ist die gesunde Energie, die man in diesem Viertel spürt», steht da. «Es ist hier grün, die Anwohner sind offen für Neues, fit und entspannt.» Klingt gut, könnte man sagen – und sich allenfalls fragen, ob es sich hier um eine Beschreibung oder eher um eine Anweisung handelt.
Dann erfahren wir, warum die Quartierbewohner so fit und entspannt sind: Autos sind nur in Ausnahmefällen willkommen, es gibt eine Schnellstrasse für Velos, die so intelligent konzipiert ist, dass man nie Gegenwind hat. Im Zentrum steht ein Sharing-System, das über eine eigene «Wijkshare App» läuft. Diese App speichert auch die «Social Credits» – Pluspunkte, die man durch «soziales und gesundes Verhalten» verdient und mit denen man Dienstleistungen bezahlt.
Und damit nicht genug: Wer viele Social Credits gesammelt hat, geniesst überdies mehr Einfluss im Quartier: Seine Stimme hat entsprechend mehr Gewicht bei den Entscheidungen darüber, wie das Viertel gestaltet werden soll. «Soziales Verhalten wird belohnt, aber auch gelehrt», verkündet der Text weiter. Alle Schüler der Orientierungsstufe absolvieren ein soziales Praktikum, bei dem sie mit einer Person im Rentenalter gekoppelt werden, mit ihr Ausflüge machen und so Punkte sammeln.
Im Quartier gibt es auch Begegnungsplätze. Ist jemand mit denselben Interessen in der Umgebung, erhält man eine Push-Nachricht. Stets sind Quartier-Coachs zur Stelle, um die «geistige und körperliche Fitness» der Bewohner zu verbessern. Der Text endet mit dem Satz: «Logisch, dass die Leute hier alt werden und lange wohnen bleiben.»
In #UtrechtLab spraken we met College van GS @ProvUtrecht over #innovatie in de Wijk van de Toekomst. Dank @DesInnGro voor inspirerende platen! #DesignThinking pic.twitter.com/IlMdp6e9eU
— UtrechtLab (@UtrechtLab) January 29, 2020
Welcher Teufel mag nur die Beamten der Provinzverwaltung Utrecht geritten haben, als sie diesen Text absegneten? Nun gibt es ja gegen eine Veloschnellstrasse ohne Gegenwind wenig einzuwenden. Doch wesentliche Teile dieser optimistischen Zukunftsvision erscheinen bedeutend weniger «gesund», als es sich ihre Architekten vorstellen.
Nicht nur von rechts, wo man gleich zum rhetorischen Zweihänder greift und der Provinzverwaltung maoistische Tendenzen unterstellt, auch aus den Reihen der linksliberalen Partei D66 wird scharfe Kritik laut. Und auf Twitter ist das Echo so einseitig negativ, dass man schon fast Mitleid mit den braven Beamten bekommt.
Es fragt sich, in welcher Welt die Autoren dieses Texts leben. Wer sonst denkt beim Begriff «Social Credits» nicht sofort an die Bestrebungen der chinesischen Regierung, ihre Untertanen über ein «Social-Scoring-System» in die erwünschte Richtung zu lenken? Wer sonst fühlt sich nicht an die dystopische Netflix-Serie «Black Mirror» erinnert?
Kijk de aflevering "Nosedive" uit de serie "Dark Mirror" (SE3, E1) op Netflix en kijk waar dit allemaal toe leidt...
— Johan van Elk (@JMvanElk) February 13, 2020
Hoffen wir, der Gegenwind, der den naiven Zukunftsplanern von Utrecht nun aus Twitter-Kommentaren ins Gesicht bläst, möge ihren Eifer etwas kühlen. Auch wer nur vermeintlich Gutes im Sinn hat, kann sich irren. Oder Teil jener Kraft sein, die – in Umkehrung des Faust-Zitats – «stets das Gute will und stets das Böse schafft.»