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Die Angst des Westens vor Putins Niederlage

Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy and Canada's Prime Minister Justin Trudeau hold a joint media availability in Ottawa on Friday, Sept. 22, 2023. (Sean Kilpatrick/The Canadian Press via AP) ...
Blickte zuletzt häufig nachdenklich drein: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj.Bild: keystone
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Die Angst des Westens vor Putins Niederlage

Während die Ukraine wichtige Fortschritte auf dem Schlachtfeld macht, bröckelt die westliche Unterstützung. Die Furcht vor einer russischen Niederlage ist grösser als jene vor dem Untergang der Ukraine.
23.09.2023, 07:12
Kurt Pelda / ch media
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Systematisch zerstört die Ukraine die Ressourcen der russischen Schwarzmeerflotte. Ukrainische Drohnen greifen tief in Russland Flugplätze und andere militärische Ziele an. Bei Bachmut haben die Ukrainer eine russische Brigade eingekesselt und vernichtet. Und in der Südukraine verbreitern und vertiefen Kiews Streitkräfte die Bresche, die sie in die gestaffelten russischen Verteidigungsstellungen geschlagen haben.

Auf dem Schlachtfeld sieht es im Moment nicht gut aus für die Russen. Die entscheidenden Siege erringt Moskau viel eher auf der politischen Bühne im Westen. Trotz anderslautender Bekenntnisse bröckelt die Allianz des Westens mit Kiew. Nach dem Gusto westlicher Politiker – von US-Präsident Biden über Bundeskanzler Scholz bis zum polnischen Regierungschef Morawiecki – kommt die ukrainische Gegenoffensive viel zu langsam voran.

Polen verdient gut am Transit

Zugleich ist den westlichen Nachrichtendiensten wohl kaum entgangen, dass sich die Lage des russischen Invasionskorps in den vergangenen Wochen drastisch verschlechtert hat. Ein Durchbruch in der Südukraine ist in den Bereich des Möglichen gerückt. Damit verbunden wäre wahrscheinlich auch ein Übergang vom Stellungs- zum Bewegungskrieg, in dem all die westlichen Panzer endlich ihre technische Überlegenheit entfalten könnten.

Doch vielleicht ist es genau diese Aussicht, die Zauderer wie Scholz und Biden am meisten ängstigt: Was wäre, wenn Putin seine «neuen russischen Provinzen» in der Ukraine nicht mehr halten kann? Wenn Russlands strategische Niederlage offensichtlich würde? Das könnte den Diktator den Kopf kosten. Was käme danach?

Es ist wohl kein Zufall, dass Polen ausgerechnet jetzt damit droht, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Vordergründig ist Warschau verärgert über die ukrainischen Getreideexporte. Allerdings stehen im Oktober die polnischen Parlamentswahlen an. Ausserdem verdient das Land gut am Transit von Weizen und Kriegsmaterial. Böse Zungen in Kiew behaupten, dass Warschau nicht an einem schnellen Kriegsende gelegen sei. Denn solange Russland mit der Ukraine beschäftigt sei, könne es sich keinen Streit mit anderen Staaten leisten.

A Ukrainian soldier helps a wounded fellow soldier on the road in the freed territory in the Kharkiv region, Ukraine, Monday, Sept. 12, 2022. Ukrainian troops retook a wide swath of territory from Rus ...
Verwundete ukrainische Soldaten in Charkiw.Bild: keystone

Putin schert sich nicht um Verträge

Dass der Krieg die russische Armee massiv geschwächt hat, ist offensichtlich. Aus Mangel an Material und Soldaten musste Russland viele Truppen von seinen Landesgrenzen mit Nato-Staaten abziehen. Wäre ein ukrainischer Sieg hingegen greifbar, müsste sich der Westen Gedanken machen, was das für den Fortbestand der Russischen Föderation bedeuten würde. Ein bekannter, wenn auch unberechenbarer Feind wie Putin ist vielen Politikern wohl lieber als die Ungewissheit nach einer russischen Niederlage.

Kritiker der Ukraine führen gerne die «Kriegsmüdigkeit» im Westen dafür an, dass man Kiew jetzt zu handfesten Zugeständnissen am Verhandlungstisch zwingen müsse. Vergessen geht dabei, dass sich Putin nur so lange an einen wie auch immer gearteten Waffenstillstand oder Friedensvertrag halten wird, wie ihm ein solcher nützt. Dass man auf westlichen Sofas über «Kriegsmüdigkeit» in den eigenen Reihen lamentiert, wirkt geradezu zynisch angesichts des Blutzolls, den die Ukrainer zu entrichten haben.

FILE - President Joe Biden meets with Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy in the Oval Office of the White House, Thursday, Sept. 21, 2023, in Washington. (AP Photo/Evan Vucci, File)
Joe Biden,Volo ...
Empfang in Washington: US-Präsident Joe Biden (rechts) mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodimir Selenski.Bild: keystone

Auch das Argument, dass der Westen Unsummen in einen Zermürbungskrieg ohne Resultate stecke, zieht nicht so richtig. Tatsache ist, dass das meiste Material, das die USA und die europäischen Staaten liefern, alt ist oder kurz vor der Ausmusterung steht. Auch die F-16-Kampfjets, welche die Niederlande und Dänemark abgeben wollen, werden derzeit durch moderne Tarnkappenflugzeuge des Typs F-35 ersetzt.

Eines ist jedenfalls klar: Sollte die Allianz mit der Ukraine weiter bröckeln und der militärische Druck auf das russische Invasionskorps abnehmen, wird dem Westen schon bald eine deftige Rechnung präsentiert werden. Nämlich dann, wenn Russland weitere Länder wie die Moldau oder Georgien überfällt. Mit Putin wird es keinen Frieden geben. Deshalb sollte die Ukraine unterstützt werden, bis Russland der Appetit auf weitere Eroberungen vergangen ist.

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157 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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maristo
23.09.2023 07:37registriert Mai 2021
Es ist eine heuchlerische Art der Unterstützung in Europa, wenn altes Material geliefert und dann über die langsamen Fortschritte gemotzt wird. Eine Schande angesichts der Nähe. Ohne die Lieferungen der USA hätte die Ukraine wohl schon lange verloren.
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Voraus denken!
23.09.2023 07:40registriert März 2022
Der letzte Absatz ist der wichtigste Teil des Beitrages.

Wenn man den Terrorfürsten aus Moskau gewähren lässt, dann werden weitere Nachbarn überfallen und annektiert.

Das destabilisiert die ganze Welt infolge der Nachahmer wie China und weiteren.

Deshalb muss die Ukraine mit allen Mitteln unterstützt werden die sie für die Verteidigung gegen die ruzzischen Invasoren benötigt.
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001950.e8d3d397@apple
23.09.2023 07:39registriert Juli 2021
Dieser Krieg wird Russland wirtschaftlich und militärisch mindestens 10 Jahre zurückwerfen und ruhigstellen. Davon profitiert die ganze freie Welt natürlich gewaltig. Es ist also in unserem Interesse, die Ukraine weiter zu unterstützen.
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