Von einem Abstellraum zu sprechen, würde dem altehrwürdigen Saal nicht gerecht werden. Trotzdem ist der improvisierte Auftritt von Wolodymyr Selenskyj in der alten Senatskammer des US-Kongresses an diesem Donnerstag eine Verlegenheitslösung. Normalerweise werden durch den historischen Raum mitten im Kongressgebäude nur noch Touristengruppen geschleust. Jetzt aber muss er Selenskyj als Unterschlupf dienen. Im vergangenen Jahr noch durfte er vor dem ganzen Kongress im grossen Plenum sprechen, übertragen von Fernsehsendern in die ganze Welt.
Dem ukrainischen Präsidenten ist es dieses Mal, bei seinem zweiten Besuch in Washington seit dem Überfall Russlands auf sein Land, aber untersagt, im amerikanischen Parlament zu den Abgeordneten und den Senatoren zu sprechen. Der seit diesem Jahr amtierende republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, wollte das so. Seiner Vorgängerin, der Demokratin Nancy Pelosi, war der Selenskyj-Auftritt 2022 im Kongress noch eine Herzensangelegenheit.
Der Republikaner Kevin McCarthy geht damit als einziger führender Politiker im Kongress bewusst auf Abstand zu Selenskyj. Nicht mal ein gemeinsames Foto postet er, ganz im Gegensatz zu dem Minderheitsführer im Senat, seinem Parteikollegen, Mitch McConnell. Auch der Mehrheitsführer Chuck Schumer und der demokratische Minderheitsführer im Repräsentantenhaus Hakeem Jeffries demonstrieren öffentliche Nähe zum ukrainischen Präsidenten. McCarthys offizielle Begründung lautet: Für einen Kongress-Auftritt Selenskyjs hätten die Abgeordneten keine Zeit.
Man mag dieses Verhalten von Kevin McCarthy als nebensächliche Symbolik abtun. Aber der führende Republikaner beraubt den ukrainischen Präsidenten damit eines seiner wichtigsten Instrumente: Er entzieht ihm damit das Wort im Zentrum der Macht Amerikas. Es wird überdeutlich, dass die Unterstützung der USA keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Mehr als ein Jahr vor den kommenden US-Präsidentschaftswahlen droht die Ukraine damit zum Spielball amerikanischer Innenpolitik zu werden.
Für Selenskyj, für Joe Biden und alle Verbündeten ist das ein bitterer Vorgeschmack auf das, was schon bald auf die Ukraine, auf Europa und den Rest der Welt zukommen mag. Die Angst vor einem folgenreichen Rückzug der Amerikaner aus dem Milliarden Dollar schweren Engagement zur Verteidigung der Ukraine gegen die Nuklearmacht Russland wird akut. Denn eine Frage stellen viele Republikaner immer lauter: Was hat Amerika davon?
Zwar will die grosse Mehrheit der Republikaner im US-Senat dem angegriffenen Land nach wie vor beistehen. Hier ist die Überzeugung ausgeprägt, dass Putins Beispiel nicht Schule machen darf, auch weil China sich sonst ermutigt fühlen könnte, ähnlich vorzugehen. In der zweiten Kammer aber, dem Repräsentantenhaus, dem McCarthy als Sprecher vorsteht, entfaltet sich der Widerstand einer wachsenden Gruppe radikaler Republikaner, die unter dem Einfluss des ehemaligen und erneut kandidierenden US-Präsidenten Donald Trump stehen.
Das Haushaltsrecht, also auch die Freigabe von Hilfsgeldern, liegt aber gerade im Repräsentantenhaus. Und mit seiner hauchdünnen Mehrheit ist McCarthy von diesem radikalen Flügel, dem sogenannten «Freedom Caucus», seit seiner denkbar knappen Wahl komplett abhängig. Und Donald Trump macht Druck. Einen Tag vor Selenskyjs Ankunft in Washington veröffentlichte er auf seiner sozialen Plattform «Truth» folgenden Aufruf:
Er fordert darin die «Republikaner im Kongress» auf, der «Regierung des korrupten Joe Biden, die sich weigert, die Grenze zu schliessen, und die das halbe Land als Staatsfeinde behandelt, sämtliche Mittel zu entziehen». Und Trump geht noch weiter: Die Blockade des Haushalts sei darüber hinaus auch die letzte Chance, den politischen Strafverfolgungen gegen ihn und die anderen Patrioten die Finanzmittel zu entziehen, so Trump.
Damit verknüpft Donald Trump sein politisches und persönliches Schicksal mit dem des gesamten ukrainischen Volkes. Denn es droht nicht nur einmal mehr ein sogenannter «government shutdown», also ein Stillstand der amerikanischen Verwaltung samt Gehaltseinbussen ihrer Beamten. Schon in neun Tagen könnte auch ein Zahlungsausfall der USA eintreten. Dieser würde nicht nur die Kreditwürdigkeit des Landes weiter herabstufen. Die nächsten Milliarden schweren Finanz- und Militärhilfen für den Überlebenskampf des ukrainischen Volkes wären davon ebenso betroffen. Damit macht Trump die Ukrainer und alle Unterstützer in der Welt, allen voran Europa, zu seiner Geisel.
Der US-Präsident Joe Biden und seine Regierung versuchen an diesem Tag alles, um von diesem drohenden Szenario so gut wie möglich abzulenken. Selenskyj trifft den amerikanischen Verteidigungsminister Lloyd Austin im Pentagon und danach Joe Biden im Oval Office. Fotos der beiden Präsidentenpaare werden im Garten des Weissen Hauses gemacht.
Direkt im Anschluss gibt es noch Regierungskonsultationen. Von amerikanischer Seite sind sie maximal prominent besetzt, mit Joe Biden, seinem nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan, seiner Vizeministerin Kamala Harris, dem Aussenminister Antony Blinken, dem Verteidigungsminister Austin, und der Finanzministerin Janet Yellen. Angesprochen von Reportern auf die folgenreiche Haushalts-Geiselnahme von Trumps Republikanern im US-Kongress sagt Biden: «Es gibt keine Alternative». Der US-Präsident kann nur hoffen, dass am Ende die Vernunft siegt.
Ob der nächstes Haushalt durch den Kongress geht, kann heute aber niemand mit Sicherheit sagen. Ob es ein nächstes grosses Hilfspaket für die Ukraine geben kann, demzufolge auch nicht. Aus dem schon bewilligten, aktuellen Haushalt kündigt Joe Biden dann immerhin noch das nächste Militärpaket von 325 Millionen Dollar an. Ein sichtlich müder ukrainischer Präsident Selenskyj bedankt sich und sagt: «Das ist genau das, was die ukrainischen Soldaten jetzt brauchen.» Die für den Abwehrkampf geforderten Langstrecken-Raketen des Typs ATACMS enthält das Paket aber nach wie vor nicht.
Sollten Trump und seine radikalen Parlamentarier hart bleiben, könnte am Ende nur eine Lösung bleiben: Eine Mehrheit im Repräsentantenhaus für den Haushalt müsste in einer überparteilichen Abstimmung aus demokratischen und noch willigen republikanischen Abgeordneten zustande kommen. Das aber würde das politische Ende von Kevin McCarthy bedeuten. Er wäre das nächste Opfer von Donald Trump.
Für einen kleinen Prozentsatz des amerikanischen Militärbudgets wurde eine der vermeintlich grössten Armeen (und Kontrahenten) der USA ausgeschaltet resp. blossgestellt. Und das ohne ein einziges amerikanisches Leben zu opfern. Gerade aus republikanischer Sicht sollte das einen riesigen Erfolg darstellen. Und dass die Militärindustrie noch schön profitiert dürfte ihnen auch gefallen. Aber man muss halt auch die Crazies hofieren…