Die Ausschreitungen mit 80 verletzten Nato-Soldaten und serbischen Zivilisten im Nord-Kosovo markieren den schlimmsten gewaltsamen Konflikt der vergangenen Jahre in dem kleinen Balkanland.
Im Kosovo leben allein im Norden des Landes – an der Grenze zu Serbien – rund 50'000 Serben. Und genau dort eskaliert nun die Situation.
Was war der Auslöser für den jüngsten Gewaltausbruch? Und welche Ziele verfolgen die Konfliktparteien? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.
Kosovo gehörte einst zu Serbien und Jugoslawien. Noch heute befindet sich im Norden des Kosovo, an der Grenze zu Serbien, ein kompaktes serbisches Siedlungsgebiet.
Hintergrund der Eskalation ist die Wahl albanisch-stämmiger Bürgermeister in dieser Region, nachdem die serbischen Amtsträger auf Geheiss Belgrads im April zurückgetreten waren.
Die Zusammenstösse begannen am Freitag: Militante Serben griffen die Kosovo-Sonderpolizei an, die im kosovarischen Ort Zvečan den neu gewählten albanisch-stämmigen Bürgermeister ins Amt eskortierte. Bereits da gab es Verletzte.
Polizei postierte sich um die Gemeindeämter und das Rathaus in Zvečan, um sie zu schützen.
Im Jahr 1999 intervenierte die NATO mit Luftangriffen gegen Serbien im Gefolge von Jugoslawiens Zerfall, um Kriegsverbrechen serbischer Sicherheitskräfte gegen albanische Zivilisten im Kosovo zu stoppen. Das Land kam unter UN-Verwaltung und erklärte sich 2008 für unabhängig.
Die serbische Regierung anerkennt die Unabhängigkeit Kosovos jedoch nicht, sondern sieht in Kosovo eine abtrünnige Provinz. Auch Serbiens Verbündeter Russland erkennt die Unabhängigkeit Kosovos im Gegensatz zu den meisten westlichen Staaten nicht an.
Am Montag hatten sich wieder Serben zu Protesten gegen die neuen Bürgermeister versammelt. Sie verlangten den Abzug der Kosovo-Polizei.
Fahrzeuge der Polizei standen noch beim Gemeindeamt. Am Nachmittag hätten sie wegfahren sollen, doch das liessen die Demonstranten nicht zu.
Mittlerweile hatte auch die NATO-geführte Friedenstruppe KFOR eingegriffen. Die KFOR haben ein UN-Mandat und sollen für Sicherheit in der Region sorgen. Die KFOR-Einheit setzte zur Auflösung der Proteste Tränengas ein. Dann eskalierte die Situation: Serben warfen Blendgranaten und Steine auf die Soldaten und griffen sie mit Schlagstöcken an. 30 Soldaten und etwa 50 Serben wurden verletzt.
Unter den militanten Serben sind Schläger aus dem Milieu der Fussball-Hooligans und Kleinkriminelle. Eingespannt werden sie wohl von lokalen serbischen Politikern und windigen Geschäftsleuten, die wiederum im Interesse Belgrads handeln.
Die Situation ist angespannt, weil die neu gewählten Bürgermeister Albaner sind. Zuvor hatten Serben die Ämter inne. Sie waren allerdings wegen des Autonummern-Streits zurückgetreten.
Die Wahlen wurden von den Serben auf Geheiss Belgrads boykottierten – entsprechend lag die Beteiligung unter vier Prozent.
Der Hintergrund des Streits ist, dass Autofahrer aus Serbien bei der Einreise in Kosovo kosovarische Kennzeichen verwenden sollten, die eine zeitlich beschränkte Gültigkeit haben. Dieses Vorgehen entspricht der Praxis, die seit Jahren für Fahrzeuge aus Kosovo gilt, die nach Serbien einreisen. In der Folge blockierten Angehörige der in Kosovo lebenden Serben mehrfach Grenzübergänge. Zeitweise wurden deshalb von der kosovarischen Regierung Sondereinheiten der Polizei in die Region verlegt oder KFOR-Einheiten geschickt.
Les frontières de Jarinje et Brnjak sont bloquées depuis lundi par des Serbes qui s’opposent à l’introduction des plaques d’immatriculation du #Kosovo. Et les employés des administrations serbes ont obligation de faire acte de présence sur les #barricades. https://t.co/WgBEQT9zST pic.twitter.com/eURcCMB7kT
— Courrier des Balkans (@CdBalkans) September 24, 2021
Die EU, die NATO und die USA haben seit 1999 viel diplomatische Energie in den Konflikt investiert. Allerdings haben fünf EU-Länder Kosovo bis heute noch nicht anerkannt: Spanien, Griechenland, Slowakei, Rumänien und Zypern. Das ist ein Manko für die EU-Diplomatie.
Auch nach der jüngsten Eskalation meldete sich der EU-Aussenbeauftragte, Josep Borrell, und erklärte: «Gewalttaten gegen Bürger, gegen Medien, gegen Strafverfolgungsbehörden und die KFOR-Truppen sind absolut inakzeptabel.» NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte die Entsendung weiterer 700 KFOR Soldaten an. Bislang sind 3'800 KFOR-Soldaten im Kosovo stationiert, darunter auch Schweizer.
Experten kritisieren, dass dem Westen eine Strategie fehlt – nicht nur für Kosovo, sondern für die gesamte Region.
Die Regierung des Kosovo-Ministerpräsidenten Albin Kurti teilt die europäischen Werte, geht gegen Korruption vor.
Torotzdem schiessen Borrell und die USA sich jetzt regelrecht auf Kurti ein, der mit dem Polizeieinsatz die Unruhen auslöste, aber für die von Belgrad verursachten Blockaden nichts kann. US-Botschafter Jeff Hovenier gab sogar eine «Bestrafung» der Kosovaren bekannt: Sie dürfen nicht am US-Militärmanöver Defender Europe 2023 teilnehmen.
Serbien hingegen wird von Präsident Aleksandar Vučić autoritär regiert. Vučić stützt sich auf Russland, das unter Wladimir Putin schon vor dem Ukraine-Krieg selten eine Gelegenheit ausliess, um dem Westen geopolitisch zu schaden.
Entsprechend trägt Serbien die EU-Sanktionen gegen Russland nicht mit, hat ein EU-vermitteltes Rahmenabkommen mit dem Kosovo vom Februar nie unterzeichnet – und kommt auch jetzt mit «Ermahnungen» davon.
Derzeit nicht, obwohl Vučić wieder einmal die serbischen Streitkräfte in höchste Bereitschaft versetzt hat. Aber Beobachter erwarten nicht, dass der serbische Präsident eine offene Konfrontation mit der Nato im Kosovo wagt.
Zugleich dient ihm die Spannung im Süden dazu, die Macht im eigenen Land stabil zu halten – auch im Lichte der jüngsten Massenproteste in Belgrad gegen seine autoritäre Herrschaft.
(yam/dpa)