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Lateinamerika

Gabriel Boric wurde in Chile zum Präsidenten gewählt

Chiles Weichenstellung: Linkskandidat Boric wird jüngster Präsident

20.12.2021, 02:0220.12.2021, 15:28
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Der Sieg ist überraschend klar ausgefallen: Mit knapp 56 Prozent der Stimmen ist der frühere Studentenführer Gabriel Boric (35) zum jüngsten Präsidenten in der Geschichte Chiles gewählt worden. Der deutschstämmige Rechtspopulist José Antonio Kast kam in der Stichwahl auf gut 44 Prozent.

Nachdem er nach der Stimmabgabe noch angedeutet hatte, ein knappes Ergebnis eventuell nicht anzuerkennen, gratulierte Kast seinem Konkurrenten nach Bekanntwerden des Wahlausgangs am Sonntagabend unmittelbar zum Sieg.

Presidential candidate Gabriel Boric, of the I approve Dignity coalition, waves to supporters during his closing campaign rally ahead of the presidential run-off election in in Santiago, Chile, Thursd ...
Gabriel Boric konnte die Wahl für sich entscheiden.Bild: keystone

Die Wahl galt aufgrund der gewaltigen politischen Kluft zwischen den beiden Kandidaten als Zäsur, vielen sogar als wichtigste Wahl seit Chiles Rückkehr zur Demokratie 1990. Insgesamt waren rund 15 Millionen Menschen wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung lag bei 55 Prozent, was selbst für Südamerikas Musterland hoch ist.

Der neue Präsident tritt sein Amt als Nachfolger des Konservativen Sebastián Piñera am 11. März an. Amtsinhaber Piñera wünschte der künftigen Regierung auf Twitter «den allergrössten Erfolg».

Boric, der aus Punta Arenas an der Südspitze des südamerikanischen Landes stammt, hatte 2011 die Studentenproteste in Chile angeführt und war 2013 zum Abgeordneten gewählt worden. Im ersten Wahlgang vor vier Wochen hatte er knapp hinter Kast noch Platz zwei belegt.

Vor der Stichwahl versuchten er und Kast, sich gemässigter als bis dahin zu zeigen. Offensichtlich gelang es Boric, dessen Koalition etwa die Kommunistische Partei angehört, seine Basis in der Hauptstadt Santiago de Chile zu erweitern und Unterstützer in ländlichen Gebieten des langen, schmalen Landes zwischen Anden und Pazifik zu gewinnen. So hängte er Kast etwa in der nördlichen Region Antofagasta, in der eine Migrationskrise herrscht, ab.

Gräben überbrücken

In seiner ersten Rede als gewählter Präsident, mit der er Tausende auf die Hauptverkehrsstrasse Alameda in Santiago de Chile zog, versicherte Boric, die im Wahlkampf offen zutage getretenen Gräben zwischen Rechts und Links überbrücken zu wollen. «Ich werde der Präsident aller Chileninnen und Chilenen sein», sagte er.

Mit der Stichwahl zwischen Boric und Kast wurde nicht nur das traditionelle Parteiengefüge in Chile vorerst Geschichte. Das erste Mal seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 hatten es die traditionellen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien nicht in die Stichwahl geschafft.

Mit dem 35-Jährigen Boric zieht nun auch eine neue politische Generation in den Präsidentenpalast ein, die die Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) nicht mehr erlebte und sich von dessen Erbe trennen will.

So wolle er etwa das neoliberale Wirtschaftsmodell, das General Pinochet mit Hilfe der «Chicago Boys» in Chile eingeführt hatte, begraben, hatte Boric im Wahlkampf gesagt. Er steht für eine wiederbelebte progressive Linke, die vor allem seit 2019 stark gewachsen ist. Unter seiner Führung dürfte das Land den eingeschlagenen Kurs des Aufbruchs alter Strukturen, der einem Teil der Gesellschaft zu schnell und zu weit gegangen zu sein schien, beibehalten.

Boric hat ein öffentliches Bildungswesen und bessere Gesundheitsversorgung nach dem Vorbild des europäischen Sozialstaats versprochen. Zudem setzt er sich für die Rechte von Migranten, Indigenen und Homosexuellen ein. Sein 20 Jahre älterer Rivale Kast hingegen hatte Steuersenkungen, einen Grenzgraben gegen illegale Einwanderung und hartes Vorgehen gegen Kriminelle in Aussicht gestellt. Der neunfache Vater und strenggläubige Katholik von der Republikanischen Partei gilt als Pinochet-Sympathisant.

Musterbeispiel in der Region

Chile hat eine lange demokratische Tradition, die durch den Putsch Pinochets 1973 für 17 Jahre unterbrochen wurde, und gilt heute als eine Art Musterbeispiel in der Region. Das Land hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, die Armut konnte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesenkt werden.

Doch die soziale Schere geht auch weit auseinander. Weite Teile des Gesundheits- und Bildungswesens sind privatisiert und für viele schwer erschwinglich, immer mehr Chileninnen und Chilenen fühlen sich abgehängt.

Vor zwei Jahren forderten deshalb über Wochen hinweg jeden Tag Tausende Demonstranten soziale Reformen und den Rücktritt Piñeras. Eine ihrer wichtigsten Forderungen, die auch Boric unterstützte, konnten sie bereits durchsetzen: Derzeit arbeitet ein Konvent eine neue Verfassung aus. Der aktuelle Text stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur. (sda/dpa)

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47 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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LURCH
20.12.2021 03:03registriert November 2019
Zum Glück nicht noch ein weiterer Idiot wie Bolsonaro in Südamerika.
Da hat wohl die Lobbyarbeit und all das Geld von von Storch nicht viel genützt.
Nicht nur dass dann eine AfD 2.0 in Chile installiert worden wäre, dies wäre ein. Rückfall in die dunkelsten Zeiten der Diktatur von Pinochet geworden.

https://www.npla.de/thema/tagespolitik/beatrix-und-sven-von-storch-netzwerken-mit-bolsonaro
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Pana
20.12.2021 06:06registriert Juni 2015
Es wird nicht einfach, aber der Junge macht mir Hoffnung.
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Señorita equidad
20.12.2021 07:17registriert Januar 2016
Que sí! Er war die einzige Möglichkeit für Chile. Jetzt muss er sich aber beweisen, und das wird nich einfach. Aber die Hoffnung ist zurück
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