Ermordete Babys und geköpfte Leichen. Frauen, die zuerst Opfer von Massenvergewaltigungen werden und danach tot in Latrinen entsorg werden. Menschen, die mit einem brennenden Reifen um den Hals bei lebendigem Leib in Flammen stehen. Menschen, die in ihren eigenen vier Wänden erschossen werden, bevor die Häuser bis auf die Grundmauern abgefackelt werden. Massengräber.
Diese Schreckensszenarien – und noch mehr – listet die Menschenrechtsorganisation «National Human Rights Defense Network» (RNDDH) in einem Bericht auf. Passiert sind sie alle zwischen dem 24. April und dem 6. Mai in Haiti. Gestorben sind dabei mindestens 148 Menschen.
Was gerade in Haiti los ist:
Über die Hälfte der Bevölkerung Haitis lebt unter der Armutsgrenze, mehr als zwei Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter hatten 2010 keine reguläre Arbeit gehabt, wie dem «The World Factbook» der CIA zu entnehmen ist. Trotz Hilfsgelder aus dem Ausland verbesserte sich die wirtschaftliche Lage in den letzten Jahren kaum. Haiti gilt damit als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre.
Destabilisiert wurde der Karibikstaat immer wieder von schwerwiegenden Naturkatastrophen: So kostete beispielsweise 2010 ein Erdbeben 316'000 Menschen das Leben, 1,85 Millionen wurden obdachlos – das weltweit verheerendste Erdbeben des 21. Jahrhunderts. Das letzte grosse Erdbeben der Stärke 7,2 auf der Richterskala hatte im letzten Jahr 2200 Tote zur Folge, Hunderttausende wurden mittellos.
Eine schwere innenpolitische Krise schwächte das Land in den letzten Jahren zusätzlich. Der traurige Höhepunkt dieser Entwicklung war, als 2021 der Präsident Jovenel Moïse ermordet wurde. Die Hintergründe der Tat sind bis heute ungeklärt.
Evangelikale Haitianer – und das sind laut Schätzungen von 2003 fast 30 Prozent der Bevölkerung – sind davon überzeugt, dass ihr Land seit einem «Pakt mit dem Teufel» im Jahr 1791 verflucht sei – sogar ein Präsidentschaftskandidat von 2005, Chavannes Jeune, bediente dieses Narrativ.
Und als wären die Menschen in Haiti nicht schon genug gebeutelt, sind die unsichere politische und wirtschaftliche Lage sowie die grassierende Armut der ideale Nährboden für Banden: Der schwache Staat ist das ideale Transitland für Drogengeschäfte, Entführungen, Gewalt und Kriminalität.
Für die jüngsten Eskalationen sind zwei Banden verantwortlich: Chen Mechan und 400 Mawozo. RNDDH stellt sie vor:
Als Kopf von Chen Mechan gilt laut dem Bericht von RNDDH Claudy Celestin alias Chen Mechan.
2015 ist Chen Mechan ein Kleinkrimineller. 2016 wird er aufgrund kleinerer Überfälle verhaftet. Zur selben Zeit kontrolliert der Polizeiinspektor Chariot Casimir alias Baker das Departement Butte-Boyer nordöstlich der Hauptstadt Port-au-Prince. Die Mitglieder von Bakers Gang geraten mit der Zeit völlig ausser Kontrolle.
2017 kommt Chen Mechan wieder auf freien Fuss. Indem er vorgibt, engste Beziehungen zum neugewählten Präsidenten Moïse zu haben, verdient er sich Ansehen und Respekt in der Gegend, in der bis anhin Baker und seine Leute die Kontrolle hatten.
Da Chen Mechan und sein Gefolge im Gegensatz zu Bakers Leuten die Anwohner im eignen Gebiet nicht bis aufs Hemd ausnehmen, wendet sich die Bevölkerung 2020 an den aufstrebenden Kriminellen, mit der Bitte, Baker endgültig zu vertreiben.
Baker wird daraufhin festgenommen, seine Leute schliessen sich teilweise den 400 Mawozo an, die angrenzende Gebiete kontrollieren. Seither kontrolliert Chen Mechan das Gebiet um Butte-Boyer.
Die 400 Mawozo wird von Wilson Joseph alias Lanmò 100 Jou angeführt.
Bei ihrer Gründung spezialisiert sich die Gang auf Raubüberfälle sowie Entführungen mit Lösegelderpressung – zum ersten Mal werden in Haiti auch Männer im grossen Stil entführt.
2015 wurde der damalige Anführer der 400 Mawozo, Germine Joly alias Yonyon, in Haft genommen, doch noch vom Gefängnis aus regiert er seine Bande mit eiserner Faust.
Trotzdem formiert sich die Gang neu und Lanmò 100 Jou wird zum neuen Anführer.
Avec l’accession de Wilson Joseph (Lanmò100Jou) à la tête des #400Mawozo, le gang a entrepris d'étendre son territoire. D’où la volonté des bandits armés qui avaient été chassés de Butte Boyer par les #ChenMechan, de reprendre leur ancienne base.
— Radyo 32 (@Radyo_32) May 11, 2022
Rapport: @RnddhAyiti pic.twitter.com/ZZmc96tZXW
Unter ihm erobert die Bande immer mehr Territorien – die Stadt Croix-des-Bouquets ist seit der Machtübernahme von Lanmò 100 Jou von bewaffneten Angriffen geprägt: Ganze Familien haben bereits ihre Häuser und das Gebiet verlassen, um vor der 400 Mawozo zu flüchten.
Im April beginnt Lanmò 100 Jou damit, Gebiete von Chen Mechan einzunehmen. Sich quasi das alte Gebiet von Baker zurückzuerobern. Tatsächlich gelingt es ihm, einen Teil des Gebiets zu übernehmen. Dazu wurden mindestens 20 Häuser niedergebrannt.
Berauscht vom Erfolg habe Lanmò 100 Jou daraufhin den Stützpunkt von Chen Mechan angegriffen, wie RNDDH schreibt. Die Morde in den letzten Wochen fanden im Zuge dieser versuchten Gebietseroberungen statt.
Die Chen Mechan veranstalten als Reaktion auf das Vordringen der 400 Mawozo eine regelrechte Menschenjagd: Sie tötete laut RNDDH sieben ihrer eigenen Mitglieder, die die Konfrontation mit 400 Mawozo beenden wollten. Zudem schlachteten sie Zivilisten ab, die beschuldigt wurden, mit den Rivalen zu kollaborieren oder sie zu verstecken.
Andere Personen wurden umgebracht, wenn sie sich gegen die Übergriffe der Bande öffentlich ausgesprochen hatten. Die Menschenrechtsgruppe RNDDH listet in ihrem Bericht jeden Mord minuziös auf. Und schreibt von einem «Massaker beispielloser Grausamkeit».
«Vom 24. April bis zum 5. Mai 2022 durchsuchten bewaffnete Mitglieder der Chen Mechan Häuser in ihrem eigenen Gebiet mit einer Liste von Namen. Sie verfolgten Zivilisten, insbesondere junge Leute, von denen sie behaupteten, sie hätten in irgendeiner Form Beziehungen zu 400 Mawozo», berichtete die Menschenrechtsaktivistin und Leiterin von RNDDH, Marie Rosie Auguste Ducenat, in der Sendung «Le rendez-vous avec Volcy Assad» der Nachrichtengruppe Gazette Haiti.
Während dieser ganzen Zeit steht das öffentliche Leben still: Schulen und Läden sind geschlossen, der Verkehr ist völlig lahmgelegt. Dutzende Häuser werden niedergebrannt, über 9000 Menschen flüchten, mindestens 149 sterben.
Nach 12 Tagen blutiger Auseinandersetzungen hätten sich die Mitglieder der 400 Mawozo wieder in ihren Stützpunk in Croix-des-Bouquets zurückgezogen, wie «Le Nouvelliste» schreibt.
Die Journalisten vor Ort schreiben von einer «scheinbaren, aber prekären Ruhe», die durch eine «bemerkenswerte Polizeipräsenz» eingekehrt sei, sogar der Verkehr würde wieder «zaghaft» anrollen. Spezialeinheiten der Nationalpolizei und der Streitkräfte Haitis seien weiterhin vor Ort.
stormcloud
Wie gut es uns doch geht!
Liebu
Die armen sonst schon gebeutelten Bewohner leiden wie immer am Meisten darunter.