Jeffrey Dahmer wirft ein rohes Stück Fleisch in die Bratpfanne. Er brät es knusprig an – und beisst danach mit gerunzelter Stirn in den Braten. Es scheint ihm zu schmecken.
Doch dem Zuschauer vergeht jeglicher Appetit. Denn: Das Fleisch stammt nicht von einem Tier, sondern es ist das Herz eines der mindestens 17 Männer, die Dahmer zwischen 1978 und 1987 getötet hat, wie der Zuschauer da bereits weiss.
Dies ist eine Szene der Netflixserie über den Serienmörder Jeffrey Dahmer, die keine Erfindung von Netflix ist. Neben Ermordung reichen Dahmers Verbrechen über Leichenschändung bis hin zu Kannibalismus. Die Macher stützen sich bei der real-fiktiven Verfilmung auf Aufzeichnungen, Zeugenaussagen und Dahmers Geständnisse.
Netflix verzichtet nicht auf grausame Einzelheiten. Selbst die abscheulichsten Details legt die Serie offen und löst damit eine Debatte aus: Sind die Macher zu weit gegangen? Hat Netflix die Verbrechen zu Unterhaltungszwecken ausgeschlachtet?
Dabei verfolgten die Macher im Grunde das Ziel, den Opfern eine Stimme zu geben – und auf die damaligen Missstände aufmerksam zu machen. Doch die Angehörigen der Opfer vertreten eine andere Auffassung:
Die True-Crime-Serie konzentriert sich nicht nur auf Dahmers Gewalttaten, im Zentrum stehen auch die Geschichten seiner Opfer und deren Familie. Jeffrey Dahmer gestand 17 Morde, von denen ihm 16 nachgewiesen werden konnten. Es blieben demnach sehr viele betroffene Menschen zurück.
#DahmerNetflix is out, let’s not romanticize Jeffrey Dahmer just because he is played by Evan Peters.
— hot girl jo (@sicssorluv) September 21, 2022
Remember the victims.
A tread about each victim and who they were. pic.twitter.com/3NAZpG40Dq
Für all diese Menschen ist die Wiederaufarbeitung der Geschehnisse schmerzhaft und retraumatisierend: «Die Serie hat die Emotionen zurückgebracht, die ich damals gefühlt habe», sagt Rita Isbell, die selbst in der Serie vorkommt. Ihr Bruder Errol Lindsey wurde von Dahmer getötet.
Im Prozess gegen Dahmer machte Isbell vor Gericht eine bewegende Zeugenaussage, die im Live-Fernsehen übertragen wurde. Ihre Opferaussage wurde bis ins kleinste Detail nachgespielt. «Die Haare der Schauspielerin waren wie meine und sie trug die gleichen Kleider. Es fühlte sich an, als würde ich alles noch einmal durchleben», sagt Isbell.
Was die Schwester des getöteten Lindsey am meisten kritisiert: Netflix habe sie nie kontaktiert, um nachzufragen, ob sie mit der Verfilmung einverstanden sei. «Ich habe das Gefühl, Netflix hätte fragen sollen, ob es uns etwas ausmacht oder wie wir uns dabei fühlen. Doch da kam nichts.» Für Isbell steht fest: «Das ist einfach nur Gier.»
Ihr Cousin ist sich darüber im Klaren, dass True-Crime-Serien beliebt sind. Trotzdem wirft er die Frage in den Raum: «Wie viele Filme braucht es denn noch?» Und er schreibt:
I’m not telling anyone what to watch, I know true crime media is huge rn, but if you’re actually curious about the victims, my family (the Isbell’s) are pissed about this show. It’s retraumatizing over and over again, and for what? How many movies/shows/documentaries do we need? https://t.co/CRQjXWAvjx
— eric perry. (@ericthulhu) September 22, 2022
Isbell ist bei weitem nicht die einzige, die sich von Netflix ein anderes Vorgehen wünschte. Shirley Hughes, die Mutter des ermordeten Tony Hughes sagt gegenüber «The Guardian»:
Auch Lionel Dahmer, der Vater von Jeffrey Dahmer, gehört zu den Protestlern. Er wirft Netflix vor, dass die Macher der Serie ihn in ein schlechtes Licht rückten. Sein Briefkasten ist seit der Ausstrahlung gefüllt mit Hassbriefen und Drohungen.
Die Mission der Serie soll laut Schauspieler Evan Peters, der Dahmer verkörpert, klar gewesen sein: Die Serie dürfe nicht aus Dahmers Sicht erzählt werden. «Die Geschichte von Jeffrey Dahmer ist so viel grösser als nur er», so Peters.
Die Macher hätten die Geschichte so erzählen wollen, wie sie zuvor noch nicht erzählt worden sei – aus der Opferperspektive. «Diese Familien und Gemeinschaften wurden für immer von Dahmers grausamen und sinnlosen Taten heimgesucht und verdienen es, dass ihre Geschichten endlich in die Erzählung aufgenommen werden.»
Dazu beleuchtet die Serie die trauernden Familien, die versuchen, die traumatisierenden Morde zu verarbeiten, und lässt gesellschaftskritische Aspekte zu: «Aufgrund von Rassismus und Homophobie hat die Polizei Dahmer damals nicht früher aufgehalten», so Peters.
Wie kam der Serienmörder so lange damit durch? Das ist die Frage, welche die Serie zu beantworten versucht. Ein Aspekt, der laut des Regisseurs Ryan Murphy davor noch nicht so stark thematisiert worden sei. Man habe die Geschichte so authentisch wie möglich erzählen wollen, dies erforderte jedoch einige Handlungen, fuhr Peters fort.
Ob er auf die fiktive Szene anspielen wollte, als Dahmer ein Menschenherz verspeiste – oder er damit die mumifizierten Leichenteile im Gemüsefach meinte, ist nicht bekannt.
Klar ist: Die Debatte um die Serie hält ebenso an wie der Erfolg der Serie. Mit« Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer» feiert Netflix gerade einen Erfolg. Laut Angaben von Netflix ist Dahmer die zweitbeliebteste englischsprachige Serie, hinter Stranger Things.
Überraschen dürfte dies nicht. Die Psyche von Massenmördern sowie detailreiche Informationen zu ihren Taten interessiert jeher. Trotzdem stellt sich die Frage: Wie weit darf True-Crime gehen?