Weit im Norden Deutschlands, im Bundesland Niedersachsen, liegt die ostfriesische Insel Borkum. Ihre weissen Sandbänke, ihr wildes Meer, ihre pittoresken rot-weissen Leuchttürme locken jedes Jahr zehntausende Touristinnen und Touristen an. Was die Besuchenden allerdings nicht wissen: Auf ihrer Ferieninsel findet immer am 5. Dezember ein grauenhaftes Ritual statt: Klaasohm.
An Klaasohm machen die Männer von Borkum Jagd auf junge Frauen und prügeln sie unter Gejohle grün und blau. Und Polizei, Bürgermeister und Gleichstellungsbeauftragte? Schauen zu. Das zeigt die Reportage des deutschen öffentlich-rechtlichen YouTube-Kanals «Strg F».
Wo das frauenverachtende «Volksfest» seinen Ursprung hat, ist nicht genau geklärt. Der Legende nach soll es im 17. oder 18. Jahrhundert aufgekommen sein. Damals arbeiteten die meisten Männer der ostfriesischen Insel auf niederländischen Walfängerschiffen. Während ihrer Abwesenheit verwalteten die Frauen die Insel in Eigenregie. Das soll den Männern gar nicht gepasst haben, wenn sie nach einem langen Sommer auf dem eisigen Meer heimkehrten. Also «eroberten» sie die Insel im Winter zurück. Mit Gewalt.
Heute veranstalten Klaasohm nicht mehr Walfänger, sondern die Mitglieder des Vereins Borkumer Jungens. Sie küren jedes Jahr sechs Borkumer Männer zu «Klaasohms», welche an diesem Tag das «Recht» erhalten, Frauen zu verprügeln.
Mindestens 16 Jahre alt, unverheiratet und Vereinsmitglied müssen die Auserkorenen sein. Nach ihrer Wahl werfen sie sich in Kostüme: Fellmasken, Helme mit Hörnern, lange Gewänder, Federn. Was bei dieser Verkleidung auf keinen Fall fehlen darf: die «Waffe» – ein Kuhhorn.
Bevor das Frauenprügeln losgeht, verbarrikadieren sich die Männer der Insel in einer Halle. Frauen und Fremde haben keinen Zutritt. Journalistinnen und Journalisten schon gar nicht. In der Halle steigen die auserkorenen Klaasohms gegeneinander in den Ring. Kämpfen darum, wer an diesem Abend die Führung übernehmen darf. Die anonymisierte Nele, eine ehemalige Borkumerin, erzählt in der Reportage:
Natürlich habe man dann grosse Angst. «Denn du weisst: Das wird gleich hammermässig wehtun.»
Wie diese Frauenjagd aussieht, konnte das Rechercheteam am 5. Dezember 2023 mit der Kamera festhalten. Zu sehen sind Männergruppen, die Frauen hinterherrennen, sie packen und zu den verkleideten Klaasohms zerren. Diese stehen mit ihrem Kuhhorn bereit. Sie fordern die Frauen auf, ihnen ihren Hintern entgegenzustrecken. Weigern diese sich, legen sie die Frauen gewaltsam übers Knie oder lassen sie von anderen Männern festhalten.
Dann schlägt der Klaasohm zu. Mit voller Kraft. Immer und immer wieder. Auch dann noch, wenn die Frau am Boden liegt. Sich vor Schmerz krümmt und schreit. Auch dann noch, wenn sie weint. «Hey, hey, hey», ruft die Männermenge im Chor. Feuert den Klaasohm bei jedem Schlag an. Lacht, johlt, schwingt Glocken, bläst in Kuhhörner.
Eine Borkumerin war erst 13 Jahre alt, als der Klaasohm sie verprügelte. Sie sei freiwillig an das Fest gegangen, wie sie anonymisiert im Beitrag erzählt. Die Aufregung, das Katz-und-Maus-Spiel hätten sie gelockt. Aber dann, nach den Schlägen, habe sie es bereut: «Ich hatte extreme Schmerzen und habe richtig geweint. Und ich war wütend. Wütend auf mich, weil ich dachte: Wieso tue ich mir das gerade an? Wieso habe ich auf andere gehört? Wieso habe ich nicht auf meinen Instinkt gehört?» Sie habe an diesem Tag alle verflucht.
Eine andere Borkumerin erzählt:
Wer nicht will, muss ja nicht mitmachen. Dieses Argument gilt bei Klaasohm nicht. Den Schlägen als Frau zu entkommen, sei schwierig. Das erzählt die anonymisierte Nele. Sie sei 16 oder 17 Jahre alt und alleine auf dem Heimweg gewesen, als neben ihr ein Transporter gehalten habe. Drei ihr bekannte Jungs seien ausgestiegen, hätten sie an Händen und Füssen gepackt und versucht, sie ins Auto zu zerren. In die Innenstadt zu transportieren. Dort, wo sie vom Klaasohm verprügelt werden sollte.
Sie habe sich mit aller Kraft gewehrt. Verbal und körperlich. Zehn Minuten habe der Kampf gedauert. Sie alleine gegen drei Männer. Am Ende habe sie einem der Angreifer mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Daraufhin hätten die Männer zwar von ihr abgelassen, aber sie übel beleidigt.
Eine andere anonymisierte Borkumerin erzählt von ihrer ersten traumatischen Erfahrung mit Klaasohm:
Damals sei sie noch ein kleines Kind gewesen.
Alle drei Frauen, mit denen die Reporterinnen und Reporter sprechen konnten, hatten Angst, ihr Gesicht zu zeigen. Sie befürchteten negative Konsequenzen für ihre Familie auf Borkum. Oder für sich selbst. Die bestialische Tradition ist tief verankert in der Identität der Insel. So tief, dass sogar ein Mann, der vor zehn Jahren selbst als Klaasohm Frauen jagte und schlug, nur anonym Auskunft geben möchte. Er sagt, er sei «unglaublich glücklich» gewesen, als ihn der Verein Borkumer Jungens damals zum Klaasohm kürte. Er sagt:
Für einen Abend lang sei man der Grösste.
Wegen der Verkleidung habe er teilweise gar nicht gewusst, auf wen er gerade einschlug. «Ich habe einfach genauso zugeschlagen wie die anderen Klaasohms. Und zwar so fest, wie ich konnte.» Die Frauen würden sich dieser Tortur nicht entziehen können. Auch nicht, wenn sie sagten, sie seien nicht von Borkum. Auch nicht, wenn sie riefen, sie wollten nicht geschlagen werden. «Das ist völlig irrelevant. Das ist Zwang», sagt der Ex-Klaasohm. Frauen hätten keine Wahl.
Indes würden sich die Männer gegenseitig für ihre Gewalt feiern. Der Ex-Klaasohm sagt:
Damals habe er das nicht hinterfragt. Er sei so sozialisiert worden, dass Klaasohm normal sei. «Das Frauenbild, das da durch die Hintertür kommt, finde ich schon ziemlich aussagekräftig.» Heute bereue er seine Teilnahme.
Auf den Strassen von Borkum stellt das Rechercheteam den Anwohnerinnen und Anwohnern Fragen zu Klaasohm. Die Männer finden: Alles halb so wild. «Mit dem Kuhhorn so ein bisschen vermöbeln», sagt ein Borkumer lachend in die Kamera. Und fügt an:
Eine harmlose Tradition, so der Tenor. Man treffe alte Freunde, habe es lustig. Die Auswärtigen hätten ein grösseres Problem mit dem Fest als die Insulaner.
Damit haben die «Insulaner» recht. Zumindest, wenn man sie wörtlich nimmt. Die Insulanerinnen hingegen finden Klaasohm nicht so harmlos. Eine alte Frau am Rollator sagt:
Die Borkumer, die längst auf dem Festland wohnten, würden extra nur für Klaasohm auf die Insel pilgern. Als Frau könne man sich nicht gegen die Tradition wehren. Sie sei nie Fan davon gewesen. «Nie!», betont die Frau nochmals. «Ich habe auch Schläge gekriegt.»
Wie kann es sein, dass eine so frauenverachtende Tradition in demselben Land vonstattengeht, in dem die Regierung erst gerade das sogenannte «Gewalthilfegesetz» ausgearbeitet hat, das für mehr Plätze in Frauenhäusern und mehr Schutz bei häuslicher Gewalt sorgen soll? Und niemand scheint davon zu wissen?
Dafür gibt es eine einfache, aber mindestens so erschreckende Antwort: Die Borkumer wehren sich mit vereinten Kräften gegen Journalistinnen und Journalisten, die über Klaasohm berichten wollen. Sie möchten nicht, dass eine breite Öffentlichkeit mitbekommt, dass sie jeden 5. Dezember ihre Frauen grün und blau schlagen. Ja, dass sie ihren Kindern von klein auf beibringen, dass es in Ordnung ist, wenn Männer in Rudeln bei Nacht Frauen erniedrigen und misshandeln.
Der Ex-Klaasohm spricht von einer gefährlichen Gruppendynamik, die alle zum Schweigen bringe. Diese Wand des Schweigens zeigt sich auch online. Der Verein Borkumer Jungens postete 2019 auf Facebook einen Flyer mit Verhaltensregeln am Fest. Diese Verhaltensregeln beinhalten nicht etwa grundsätzliche Regeln für einen respektvollen Umgang miteinander. Nein, die Icons von Facebook, YouTube, WhatsApp, Instagram und Snapchat sind darauf abgebildet und durchgestrichen. «Der Klaasohm mag das nicht!», steht darunter. Und:
Während der Jagd auf Frauen am 5. Dezember 2023 wurden Borkumer Männer auf das Rechercheteam aufmerksam und drohten ihm mit Gewalt. Die Reporter mussten die Aufnahmen unterbrechen und in ihr Hotel flüchten. Ähnliche Erfahrungen machte 2022 auch ein Reporterteam von RTL. Letztmalige Aufnahmen von Klaasohm machte 1990 der NDR. Den Preis zahlte die NDR-Reporterin prompt: Vor laufender Kamera zerrten die Männer die Journalistin weg, spannten sie an allen Vieren in der Luft auf und liessen sie dann vom Klaasohm verhauen.
Das «Strg F»-Rechercheteam bat bei der Borkumer Polizei, beim Verein Borkumer Jungens, bei den Borkumer Zeitungen und der Borkumer Gleichstellungsverantwortlichen um eine Stellungnahme. Niemand wollte sich zu Klaasohm äussern. Einzig der Bürgermeister liess schriftlich verlauten, dass es sich bei Klaasohm um ein Fest handle, «welches sich wie viele regionale Traditionen den Auswärtigen nicht ohne weiteres erschliesst. Daher wird es nicht beworben und wir unterstützen die Erwähnung in den Medien nicht».
Hier könnt ihr die «Strg F»-Reportage in voller Länge schauen:
und die nennen das noch „höchster Feiertag und identitätsstiftendes Fest“…?! - nur wer keinen Funken Anstand, Respekt und Empathie besitzt, kann sich an diesem „Brauchtum“ beteiligen.
Ausrede für alles.