Sibirien. Ja, das ist es. Sibirien ohne Birken. Diese Zugfahrt hinauf nach Lhasa mahnt mich an unsere Reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn. Ähnliche Wagenkonstruktionen und draussen zieht auch diese unendliche Landschaft vorbei, die sich ausbreitet wie eine Welt lange vor unserer Zeit.
Eigentlich ist eine Individualreise zu zweit nach Tibet nicht möglich. Die chinesischen Behörden erlauben keinen Individualtourismus. Ein Visum gibt es nur für staatlich geführte Gruppen von mindestens fünf Personen aus dem gleichen Land. Aber mein langjähriger Reisespezialist findet einen Weg. Er ruft an und sagt, jetzt habe er zwei Visa und vor Ort einen Führer und einen Chauffeur zu unserer persönlichen Verfügung organisiert.
Wir müssen uns schnell entscheiden und fliegen nach Peking. Von dort brausen wir mit dem Hochgeschwindigkeits-Zug nach Xining. Die Millionenstadt liegt bereits auf über 2000 Metern. Hier gewöhnen wir uns drei Tage an die Höhenlage und steigen in die «Himmelsbahn». Die 1963 Kilometer lange Fahrt auf das Dach der Welt beginnt.
Wir sind in Xining losgefahren. Weil die Züge, die von dort aus ihre Fahrt beginnen, im Gegensatz zu jenen aus Peking eine 1. Klasse («Soft Sleeper») haben. Die Reise dauert maximal 37 statt 50 Stunden und die Strecke beträgt «nur» noch knapp 2000 und nicht mehr 3650 Kilometer. Die 1. Klasse ist ein Abteil mit vier Liegebetten für vier Personen. Bei der Transsibirischen Eisenbahn ist es möglich, vier Tickets zu kaufen und so zu zweit ein ganzes Abteil zu belegen. Bei den Chinesen geht das nicht, und so teilen wir das Abteil eben mit zwei chinesischen Ladys. Teure Wesen in Designerkleidern. Ganz offensichtlich gehören sie zur chinesischen Elite. Der Reiche reist im Zuge.
Tibet ist nicht nur das Land der schneebedeckten Himalaya-Titanen, der höchsten Berge der Welt. Es ist auch, oder besser: Es ist vor allem ein weites ödes und stilles Land unter einem endlosen Himmel, der fast übergangslos mit der Erde verschmilzt. Mit jenem blauen Himmel, den es nur in grossen Höhen gibt.
Die tibetanische Hochebene ist viermal so gross wie Frankreich. Sie erstreckt sich 1500 Kilometer von Osten nach Wesen und 1000 Kilometer von Norden nach Süden auf einer durchschnittlichen Höhe von über 4500 Metern. Es ist ein geheimnisvolles Land zwischen Gegenwart und Ewigkeit, an dessen Rändern sich schneeweisse, himmelhohe Berge erheben. Ich habe später unseren tibetanischen Begleiter sehr gut verstanden, als er sinnierte, es sei wohl der Hunger nach Land und Ausdehnung, der die Chinesen nach Tibet gebracht habe.
Womit wir wieder bei dieser Parallele sind: Diese höchste Eisenbahn nach Lhasa hinauf ist für die Chinesen, was die Transsibirische Eisenbahn für die Russen ist. Auch die Russen haben noch zu Zeiten des Zaren die Eisenbahn bis an den Pazifik gebaut um ein unendliches Land zu erschliessen, zu erobern und auszubeuten. Eine «imperialistische Eisenbahn».
Tibet, die Südwestecke des heutigen China, ist nach allen Seiten hin von den höchsten Bergen der Welt begrenzt: vom Himalaya und dem Karakorum an den Grenzen zu Indien, Pakistan und Nepal. Vom Kunlun- und Nyenchen-Tangla-Gebirge zu China. Gleichgültig, von welcher Seite aus der Fremde auf dem Landweg nach Tibet kommt, die Strassen führen über Pässe von bis zu 5000 Metern Höhe.
Diese besondere Lage schien die Garantie dafür, dass nie eine Eisenbahn bis nach Lhasa gebaut wird. Aber nun fährt die Eisenbahn doch hinauf ins tibetanische Herz. Ein tibetanisches Sprichwort sagt: Kann man ein Land nur über hohe Berge erreichen, dann kommen lediglich die besten Freunde oder die schlimmsten Feinde zu Besuch. Die Chinesen sind die schlimmsten Feinde.
Fast unmerklich rollt Chinas grosser Zug hinauf bis auf über 5000 Meter, entlang an kahlen Hängen, über endlose Hochflächen und eigentlich undramatisch immer höher und höher bis über den Scheitelpunkt auf 5072 Metern. Und dann geht es, als die Nacht längst herabgesunken ist, sanft abwärts und schliesslich hinein in den hochmodernen Bahnhof von Lhasa auf noch rund 3700 Metern. Es gibt in jedem Abteil Sauerstofflaschen. Wohl eher zur Dekoration.
Die Höhe ist, anders als in Internet-Schauermärchen, kein Problem. Der längere Aufenthalt auf über 3500 Metern führt lediglich zu beschleunigten Körperfunktionen. Die Höhe fühlt sich ungefähr so an, wie wenn man 50 Espressos am Tag trinkt, verbunden mit Kurzatmigkeit beim Treppensteigen. Ein Atemzug auf einer Höhe von etwa 3000 Metern führt uns nur noch halb soviel Sauerstoff zu wie auf Meereshöhe.
Die Ankunft im Bahnhof Lhasa ist wie die Landung auf einem fremden Planeten. Wie eine Raumstation. Diese Bahnstation löst ein beklemmendes Gefühl aus. Keiner kommt da wieder heraus ohne seinen Pass und sein «Permit» mehrmals vorzuzeigen. Auch nicht die Einheimischen. Wenn sie kein «Permit» und keinen Personalausweis vorzeigen können, riskieren sie für Wochen oder auf unbestimmte Zeit im Gefängnis zu verschwinden. Die Angst vor willkürlichen Verhaftungen ist allgegenwärtig. China ist hier ein Polizeistaat wie aus Orwells «1984».
Diese höchste Eisenbahn, dieses Wunderwerk der Ingenieurskunst, hat auch etwas Bedrohliches. Es ist, als ob ein nie abreissender Strom von Chinesinnen und Chinesen auf eisernen Rädern nach Lhasa rollt. Um dieses geheimnisvolle Land, das eine Armee nicht zu besiegen vermag, auf eine andere, perfide Art und Weise zu erobern und seine Kultur für immer zu verändern: durch demographischen Wandel.
Niemand weiss inzwischen, wie viele Menschen in dieser Stadt leben. Vielleicht eine halbe Million. Vielleicht auch mehr. Etwas salopp ausgedrückt: China liegt sozusagen in den Geburtswehen seiner industriellen Revolution, die sich im Grunde mit der Erschliessung des amerikanischen Westens im späten 19. Jahrhundert vergleichen lässt.
In atemberaubendem Tempo werden gigantische Projekte verwirklicht. Strassen und eben Bahnstrecken. Was den Amerikanern der Wilde Westen ist, ist den Chinesen Tibet. Vor dem Bau der Eisenbahn war Tibet durch Strassenverbindungen stärker mit Indien und Nepal verknüpft gewesen als mit Peking. Aus Sicht der chinesischen Nationalisten und Imperialisten ein absolut unerträglicher Zustand. Das hat sich nun durch die Bahnverbindung geändert.
Allerdings zeigt sich mehr und mehr, dass die gigantischen Kosten für die Erschliessung und Unterdrückung Tibets in keinem Verhältnis zum Ertrag stehen: Tibet war nie reich. Die Tibeter haben weder Industrie noch Handel im Sinne des westlichen Kapitalismus entwickelt. Sie handeln seit Anbeginn der Zeiten ein wenig mit Yakschwänzen (als Fliegenwedel), Pelzen und Salz und widmen sich vornehmlich der Beachtung und Pflege der eigenen kulturellen und religiösen Werte.
Das Seelenheil ist wichtiger als die Jagd nach irdischen Gütern. Bodenschätze, wie sie die Russen in Sibirien ausbeuten, gibt es in Tibet mit ziemlicher Sicherheit auch nicht. Bloss ein wenig Kupfer. Aber wahrscheinlich kein Gold. Kein Öl. Kein Uran.
Die Eisenbahn bringe, so wird uns erzählt, jeden Tag mehr als hundert Chinesinnen und Chinesen nach Lhasa die für immer als neue Herren hierbleiben. Später sehen wir, was diese Invasion bedeutet: Am Yamdrok-See, der so heilig ist, dass es den gläubigen Buddhisten nur unter ganz besonderen Voraussetzungen erlaubt ist, sein Wasser überhaupt zu berühren, planschen die vielen chinesische Touristen lärmend am flachen Ufer im Wasser als sei es ein Strand in Rimini auf fast 4500 Metern Höhe.
Unser tibetanischer Begleiter sieht dem Treiben tief betrübt und mit stiller Resignation zu und seufzt, sein Volk habe eben keine staatliche Organisation, die so etwas verhindern könne. Immer wieder müssen wir miterleben, wie herablassend die chinesischen Ladenbesitzer, Tankstellenbetreiber und Beizer die Tibeter behandeln.
Den tibetanischen Buddhismus unseres Begleiters hatte ich aus Büchern gekannt. Aber was er im Alltag bedeutet, wird mir erst unterwegs mit diesem tiefgläubigen jungen Mann bewusst. Fliegen oder Mücken verscheucht er mit einer Handbewegung. Er würde es aus Respekt vor der Heiligkeit des Lebens nie wagen, ein Insekt zu töten. Wenn er sich hinsetzt, sucht er einen Felsen. Weil er befürchtet, sich im Gras auf einen Käfer oder sonst ein Tierchen zu setzen.
Und er erzählt uns, er sei bedrückt, weil es ihm obliege, bald ein Yak zu töten. Das Yak, das tibetanische Rind, ist noch immer die Existenzgrundlage für die tibetanischen Familien. Es liefert Milch, Fleisch, Leder und Wolle und der Kot dient als Brennmaterial. Wenn eines geschlachtet wird, dann muss es immer der jüngste männliche Erwachsene der Familie tun. Weil er von allen noch am meisten Lebenszeit hat, um mit vielen guten Taten den Tod des Tieres zu kompensieren.
Er hat sich auch dafür entschieden, dereinst nach dem Tod seinen Körper den Vögeln zu überlassen. Es gibt diese ganz besondere Bestattungsart: Der Körper wird nach dem Tod sozusagen in Einzelteile zerlegt, die in Blätter eingewickelt werden und von Raubvögeln gefressen werden. Die Vögel zu füttern ist sozusagen die letzte gute Tat nach dem Ende des Lebens.
Vielleicht ist die tiefe Religiosität der Tibetaner die Erklärung, warum es China offensichtlich nicht gelingt, Tibet einzuverleiben. Obwohl die Rote Armee ja schon 1951 in Lhasa einmarschiert ist. Warum die Chinesen so grosse Schwierigkeiten im Umgang mit diesem geheimnisvollen Volk haben, und warum es immer wieder zu Überreaktionen kommt.
Wo über 1000 Jahre die Religion und die Familienclans und nicht eine staatliche Administration oder Polizei oder Armee alles geordnet haben, ist ein Eroberer hilflos. Armeen können aus dem Feld geschlagen, staatliche Einrichtungen aufgelöst werden. Aber keine Macht kann einen jahrtausendealten Glauben, eine jahrtausendealte Kultur besiegen.
Die Versuche Chinas, einen eigenen Dalai Lama zu installieren, scheitern kläglich und die als Polizeispitzel in die noch tolerierten buddhistischen Kloster eingeschleusten Operetten-Mönche wirken lächerlich. Ich nehme an, es sind jene, die gelangweilt mit dem Handy spielen währen ihre Kameraden die uralten buddhistischen Texte rezitieren und beten. Natel-Mönche.
Immer wieder begegnen wir auf den Strassen Kolonnen mit über 50 Militärfahrzeugen und alleine zwischen Lhasa und Shingatse gibt es auf einer Strecke von knapp 300 Kilometern gut und gerne zehn Strassensperren. In Lhasa sind die chinesischen Aufpasser rund um den Jokhang-Palast trotz recht geschickter Tarnung auf den Flachdächern gut auszumachen.
Diese Nervosität der Besatzer steht in einem seltsamen Kontrast zum sanften, duldsamen Wesen der Unterdrückten. Vielleicht wäre ja die Besetzung von Tibet für die Chinesen so ohne Aufsehen in der Welt verlaufen wie für die Russen die Eroberung Sibiriens, wenn es dieses geheimnisvolle tibetische Volk und dessen spirituelles Zentrum Lhasa nicht gäbe.
Die Bemühungen sind offensichtlich, mit dem Ausbau der Infrastruktur, mit dem Bau von Strassen, Neubauten und Hotels, Läden, Märkten und Restaurants nach westlich-touristischem Zuschnitt aus Lhasa, diesem faszinierenden, ewigen Ort so etwas wie ein buddhistisches Disneyland zu machen und die traditionelle tibetische Kultur zu verdrängen, ja zu verhöhnen.
Aber es will nicht einmal im Zentrum, in Lhasas Altstadt rund um den Jokhang-Palast gelingen. Zum Glück auch für den Fremdling. Am vierten Tag nach der Ankunft in Lhasa packen mich heftiger Durchfall und hohes Fieber. Unser tibetanischer Begleiter will nichts von einem Arzt wissen. Das sei alles gar kein Problem. Trotz allergrösster Bedenken meiner Freundin vertraue ich ihm. Er versorgt mich mit uralter tibetanischer Medizin, deren Verkauf die Chinesen streng verbieten.
Diese Medizin besteht aus unzähligen kleinen braunen Kügelchen, die er in unserem Hotelzimmer akkurat abzählt und auf verschiedene Schälchen verteilt. 25 am Morgen, 45 am Mittag und 35 am Abend. Die Medizin wirkt schweisstreibend Wunder. Nach einem Tag bin ich wieder munter und aufgekratzt. Schliesslich besorgt er mir auch noch verbotene, bitter schmeckende, aber wunderbare tibetanische Schlafmedizin.
Seither muss ich den Jetlag, zumindest so lange der Vorrat der tibetanischen Medizin noch reicht, nicht mehr mit Dormicum auskurieren. Nach zwei Jahren habe ich immer noch ein paar Kügelchen.
Ab 5 Personen sollte es ja kein Problem mehr sein. :D
Vielen Dank für den Artikel Herr Zaugg!
Sollten Sie mal genug vom Eishockey haben, werden Sie doch Reisejournalist :)
China will eine ganz andere Ressource aus dem Tibet: Wasser.
Im Tibet entspringen der Irrawaddy, der Brahmaputra, der Yangtze, der Mekong und viele weitere Flüsse. China kontrolliert somit die Haupt-Wasserquelle für ganz Südostasien und baut einen Staudamm nach dem anderen.
Dies hat auch schon zu ordentlich Spannung zwischen China und Indien gesorgt. Denn das Wasser, welches etwa den Ganges hinunterfliesst, stammt ebenfalls zu einem grossen Teil aus Tibet.
Seit über 20 Jahren lese ich Sie nun. Angefangen hat das damals mit den 2cm starken Hockey-Saisonvorschauen, für kleine Jungs gab es damals keine Alternative, sich günstig umfassend über Eishockey zu informieren (wir hatten damals noch nicht mal Teletext ;-)
Mir gefallen diese Reiseberichte besonders gut, weil Sie schreiben können und dies noch auf eine Art tun, wie es heute nicht mehr häufig anzutreffen ist. Ihre Distanz zur Materie und so irgendwie auch der Respekt davor wirkt zudem grösser, als wenn sie über "Ihr" Hockey schreiben. Man fliesst einfach so mit, schön.