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Salman Rushdie: Im Roman «Victory City» prophezeit er sein Schicksal

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Salman Rushdie.Bild: APA/APA

Wie Salman Rushdie im neuen Roman sein schreckliches Schicksal prophezeit

Es ist der erste Roman nach der Messerattacke, die Salman Rushdie auf einem Auge erblinden wird: In diesen Tagen erscheint das Epos «Victory City» auf Deutsch: Was taugt es?
18.04.2023, 06:05
Julian Schütt / ch media
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In seinem neuen Roman nimmt Salman Rushdie die Schreckenstat vorweg, deren Opfer er kurz darauf geworden ist. Er erzählt von einer Frau, der von einem zornigen Herrscher das Augenlicht genommen wird.

Kaum war die Arbeit am Roman beendet, ging vor acht Monaten bei einem Vortrag im US-Bundesstaat New York ein amerikanischer Staatsangehöriger mit libanesischen Wurzeln auf Rushdie los und verletzte ihn mit einem Messer schwer. Der Attentäter soll mit extremem Islamismus und der iranischen Revolutionsgarde sympathisiert haben. Seither sieht der 75-jährige Salman Rushdie auf einem Auge nichts mehr.

Er wusste immer, dass es «absolute Sicherheit» nicht gibt, schreibt der indisch-britische Schriftsteller 2012 in seinem autobiografischen Buch «Joseph Anton»: «Es gab nur unterschiedliche Grade der Unsicherheit. Er würde lernen müssen, damit zu leben.»

Rushdie verteidigt im neuen Roman das Mittelalter

Seit 33 Jahren ist die Fatwa des Revolutionsführers Ajatollah Khomenei in Kraft. Sie fordert Muslime auf der ganzen Welt auf, den Schriftsteller wegen seines Buches «Die satanischen Verse» zu ermorden. Fast ist es gelungen. Das Kopfgeld, das auf ihn ausgesetzt wurde, haben die religiösen Fanatiker im letzten Jahr auf 3.3 Millionen Dollar erhöht.

In einem Interview in der «Zeit» erhebt Rushdie nun schwere Vorwürfe gegen die amerikanischen Veranstalter, die «leider nichts» taten, um ihn zu schützen. Er habe «enormes Glück» gehabt. Hätte der Angreifer ihn «an anderen Stellen des Körpers getroffen, meine Geschichte wäre beendet.»

Wie das iranische Regime und seine willigen Helfer Redefreiheit und religiöse Toleranz noch immer mit brachialer Gewalt unterdrücken, lässt sich nur als Rückfall ins Mittelalter beschreiben. Doch genau da erhebt Rushdie Einspruch. Er erzählt in «Victory City» von einem goldenen Mittelalter im historisch verbürgten südindischen Vijayanagar-Reich, einem hochzivilisierten Königreich, das weitgehend vergessen war, bevor es der Autor literarisch wiederentdeckte.

Beissende Kritik am Hindu-Nationalismus von Premier Modi

Es gab dort zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert eine erstaunliche Toleranz unter den verschiedensten Religionen und eine Gleichberechtigung der Geschlechter. In mancher Hinsicht war man in jenem mittelalterlichen Königreich also liberaler, toleranter und fortschrittlicher als im heutigen Indien, wo die rechten Hindu-Nationalisten unter Premier Narendra Modi an der Macht sind und wichtige Kulturorte umbenennen, damit jeder Bezug zum islamischen Erbe im Land verschwindet.

Eine innenpolitische Stossrichtung von Rushdies Roman wendet sich genau gegen diese Auslöschung von Spuren des Zusammenlebens der grossen Religionen in Indien. Vorbild ist für ihn das kosmopolitische Bombay seiner Kindheit, wo er in einer muslimischen Familie aufwuchs und wo Leute aller möglichen Religionen zusammenkamen und friedlich miteinander diskutierten.

Wie er das in seinen Büchern gern tut, vermischt Rushdie in «Victory City» Mythologie und Realität. Seine Protagonistin ist ein erfundenes Mischwesen, halb Frau, halb Göttin. Während die beiden grossen indischen Nationalepen, «Mahabharata» und «Ramayana», männliche Heldengeschichten seien, habe es ihn gereizt, mit seinem Roman «eine weibliche Perspektive» hinzuzufügen, sagt Rushdie.

Ein Matriarchat auf indischem Boden

Pampa Kampana, so heisst seine Heldin, wächst als Waisenkind auf, nachdem ihre Eltern tragisch ums Leben kamen. Anfangs nimmt ein Guru sie in seiner Höhle auf, der in Fundi-Kreisen wegen seines angeblich asketischen Lebenswandels verehrt wird. Doch nachts missbraucht er das Mädchen. Er predigt Ideale, an die er sich nicht hält, und verkörpert das Gegenprinzip zur weltoffenen Pampa.

Sie altert kaum und lebt so lang wie das Königreich, das sie gründet, nämlich 250 Jahre. Pampa Kampana strebt eine Art Matriarchat an, denkt politisch und sexuell aufgeschlossen, strebt eine Trennung von Religion und Staat an. Und die Künste haben bei ihr einen hohen Stellenwert. Sie selbst ist als Dichterin tätig. Ihre drei Söhne enterbt sie, da sie arrogante Nichtsnutze sind. Besser versteht sie sich mit ihren Töchtern, die sie mit einem Zugewanderten aus Portugal gezeugt hat. Pampa Kampanas Tragik ist, dass sie alle ihre Kinder überlebt.

Sie ehelicht schliesslich einen König, der nach ihren Anleitungen regiert. Während er seine Schlachten führt, liegt die Macht vollständig in ihren Händen. Aber sie hat Rivalinnen und Rivalen, die sie als Hexe verdammen, für viele Jahre ins Exil zwingen und ihr Reich zwischendurch in patriarchalen Strukturen und religiöser Orthodoxie erstarren lassen.

Salman Rushdie hat für seine Recherchen manche Reise nach Südindien unternommen, vor allem nach Hampi, wo sich die Ruinen des alten Reichs Vijayanagara befinden. Er hat aber auch Geschichtswerke gelesen und die hinduistische Mythologie gründlich studiert. Mit spürbarem Vergnügen und viel Humor mischt er Wirklichkeit und Wundergeschichten.

Da dominiert kein abgehoben-bigotter Legendenton wie oft in Geschichten mit Heiligenfiguren. Rushdie fängt das pralle, farbige, sinnliche Leben ein und erzählt ohne Tabus. Religiöse Fanatiker werden über die blasphemische Feier des Kosmopolitischen, Polygamen und der Freizügigkeit einmal mehr entsetzt sein.

Ein Plädoyer für «Hybridität, Unreinheit, Vermischung»

Rushdie hat sein umstrittenes Werk «Die Satanischen Verse» einst als «Liebeslied für unser Mischlingsselbst» bezeichnet. Er zelebriert darin «Hybridität, Unreinheit, Vermischung». Das gilt genauso für «Victory City»: Der Autor kombiniert Kulturen, Ideen, Religionen, politische Ausrichtungen wild durcheinander. Nach wie vor ist ihm nichts heilig.

Es ist kein Utopia, das er in «Victory City» zeichnet. Pampa Kampana hat zwar eine Vision von einem friedlichen, prosperierenden Reich, in dem Frauen gleich viel zu sagen haben wie Männer. Doch sie hat immer wieder Rückschläge zu verkraften. Die Orthodoxie und der Fanatismus sowie das Machotum schlagen periodisch zurück. Es kommen Despoten und Königinnen an die Macht, die im alten Kastenwesen verhaftet sind und weder Religionsfreiheit noch sexuelle Liberalität dulden.

Am Ende geht ihr Weltreich unter. Was übrig bleibt, sind Ruinen und Pampas Epos, das sie mit dem Satz enden lässt: «Worte sind die einzigen Sieger.» Immer wieder betont sie das Geschichtenerzählen als heiliger Berufung. An einer Stelle heisst es auch: «Geschichte ist nicht nur Resultat unserer Taten, sondern auch unseres Vergessens.»

Ohne die Macht der Literatur bliebe vor allem das Vergessene im Dunkeln. Worte als die einzigen Sieger: Das ist ein Motto, wie auf Salman Rushdie selbst zugeschnitten, der sich trotz Fatwa und Attentat nicht das Wort abschneiden lässt und weiter mutig für die Redefreiheit eintritt.

Mit «Victory City» kehrt er mit den Mitteln eines magischen oder vielmehr mythologischen Realismus in seine alte Heimat Indien zurück, und er knüpft wieder bei seinen früheren Romanen wie «Mitternachtskinder» oder eben «Die Satanischen Verse» an, also bei seinen Meisterwerken. (aargauerzeitung.ch)

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