Der Mord geschah vor laufender Kamera. Die geschockten Zuschauer wurden zu unfreiwilligen Zeugen, wie die 24-jährige Moderatorin Alison Parker und der 27-jährige Kameramann Adam Ward während einer Live-Sendung erschossen wurden.
Während die Medienmaschine anlief, um die Nachricht dieses schockierenden Vorfalls zu verbreiten und zu interpretieren, geschah etwas Unheimliches: Vier Stunden nach den tödlichen Schüssen wurde der Twitter-Account des Täters aktiv. Unter @bryce_williams7, dem mittlerweile gesperrten Account des 41-jährigen Vester Lee Flanagan, erschienen mehrere Tweets, die das Opfer Alison Parker als Rassistin hinstellten:
Und dann kündigte der Täter ein Video seiner Bluttat an:
In kürzester Zeit ging das Video, auf dem der Doppelmord aus der Perspektive des Täters zu sehen ist, viral – vermutlich im Sinne des Killers, der bald darauf von der Polizei gestellt wurde und sich selbst richtete.
Daran änderten auch zahlreiche Tweets nichts, die sich gegen die Flut stellten und mit verzweifelter Vergeblichkeit dazu aufriefen, das Video weder anzuschauen noch zu verbreiten.
If you don't have a professional reason to watch a snuff video, I encourage you to neither view it nor share it.
— Spencer Ackerman (@attackerman) 26. August 2015
Don't watch the video.
Do not share the video.
This is THE WORST possible use of Twitter/Facebook.
Stepping away for a few hours.
Hugs!
— Michael Buckley (@buckhollywood) 26. August 2015
Sprecher von Facebook und Youtube, wo sich Kopien des Videos ebenfalls in Windeseile verbreiteten, versprachen, die Clips zu löschen, sobald sie gemeldet würden. Doch wie wir alle wissen, war die Büchse der Pandora bereits geöffnet: Wenn etwas ins Internet gelangt ist, kann es niemand mehr zurückholen.
Obwohl der Schock über die Tat und ihre nahezu gleichzeitige mediale Verbreitung jetzt tief sitzt, war es letztlich absehbar, dass etwas in dieser Art geschehen musste. Zum einen ist da der zeitliche Aspekt: Das Internet, diese ungeheure Maschine der Beschleunigung, hat den Nachrichtenfluss in eine Stromverschnellung gezwängt. Social Media – allen voran Twitter – lassen die zeitliche Distanz zwischen Ereignis und Nachricht schwinden. Mittlerweile geht sie gegen Null.
Zum andern die soziale, psychologische Dimension: Die Social Media, als Plattformen der Selbstdarstellung erfunden, können kaum verhindern, dass sich auch pathologische Fälle ihrer enormen medialen Hebelwirkung bedienen. Dies finden nicht wenige Twitterer stossend:
So now the shooter gets his name and face all over the media for the foreseeable future. In other words, exactly what he wanted.
— Jay Gunn (@jaypgunn) 26. August 2015
The press are giving the shooter all the media attention he wanted will likely inspire another lunatic to do the same
#Virginia
— Adam Hughes (@TheHughezy) 26. August 2015
Der Missbrauch der Social Media ist indes kein neues Phänomen. Rassismus, Sexismus und gewalttätige politische oder religiöse Statements werden über dieses Megaphon in die Welt hinausgeschrien. Die Enthauptungsvideos des Islamischen Staates sind ein blutiges Beispiel dafür.
Doch wie der Journalist Jack Smith auf Mic.com zu Recht einwendet: «Don't blame the Megaphone» («Gib dem Megaphon nicht die Schuld.»). Das Web ist ein gewaltiger Verstärker, der auch die Signale der Verrückten und Verbrecher verstärkt. Der aber auch Problemen wirksam Aufmerksamkeit verschafft, die sonst im Schatten weiterwuchern würden. Smith erwähnt beispielsweise die Aktion «Black Lives Matter», die davon profitiert, dass nahezu überall Smartphone-Kameras, GoPros und Dashcams präsent sind, die polizeiliche Übergriffe auf Schwarze publik machen können. (dhr)