Nasser al-Kidwa, ehemaliger palästinensischer Aussenminister, langjähriger UN-Diplomat und Neffe von Yasser Arafat, hat sich in einem Interview mit der italienischen Zeitung «La Repubblica» zur Lage in Gaza und der Wichtigkeit einer politischen Lösung geäussert.
Dabei erklärte al-Kidwa, dass der derzeit im Raum stehende Waffenstillstand in Gaza besser als nichts sei, eine dauerhafte Lösung stelle dieser aber nicht dar. Wenn man das Leiden der Palästinenser in Gaza beenden möchte, braucht es eine politische Lösung, so al-Kidwa. Eine Rückkehr zur Situation, wie sie vor dem 7. Oktober 2023 gewesen war, sei «unmöglich».
Das bedeutet, dass die Hamas von ihrer Rolle als De-facto-Regierung im Gazastreifen entbunden werden müsse, insbesondere müsse das Gewaltmonopol von Hamas abgegeben werden. Die vollständige Auslöschung der Hamas-Präsenz im Gazastreifen, wie sie von der israelischen Regierung gefordert wird, lehnt al-Kidwa jedoch ab. Seiner Ansicht nach müsse man pragmatisch vorgehen: Die palästinensische Bevölkerung würde einen vollständigen Abrüstungszwang oder ein erzwungenes Exil der Hamas kaum akzeptieren.
Stattdessen solle die – in der Schweiz verbotene – Organisation zu einer zivilen politischen Partei werden. Der Gazastreifen müsse anschliessend von einem neuen palästinensischen Verwaltungsorgan regiert werden, welches auch das Gewaltmonopol über den Küstenstreifen erhalten soll.
Die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA), die weite Teile des Westjordanlands verwaltet, wird von Nasser al-Kidwa allerdings als ungeeignet angesehen, eine Übergangsregierung im Gazastreifen zu bilden. Seiner Ansicht nach fehlt der Autonomiebehörde die Glaubwürdigkeit bei der palästinensischen Bevölkerung in Gaza. Viele Palästinenser verbinden die PNA mit Korruption und sehen in ihr einen Teil des Systems der Unterdrückung und Diskriminierung durch Israel.
«Diese Personen können sich jetzt nicht einfach als neue Herrscher in Gaza präsentieren – sie haben keine Legitimität», erklärt al-Kidwa. Hinzu komme, dass es auch im Westjordanland seit zwanzig Jahren keine Neuwahlen mehr gegeben habe.
Al-Kidwas bevorzugte politische Lösung ist eine angepasste Version der klassischen Zwei-Staaten-Lösung. Demnach soll ein unabhängiger palästinensischer Staat entstehen, der sowohl Gaza als auch das Westjordanland umfasst und diese Gebiete miteinander verbindet. Dabei betont er die Notwendigkeit, Gaza nicht isoliert zu lassen, sondern es als integralen Bestandteil eines einheitlichen palästinensischen Staatsgebildes zu verstehen.
Um bestehende territoriale Konflikte zu entschärfen, schlägt al-Kidwa gemeinsam mit dem ehemaligen israelischen Premier Ehud Olmert einen Gebietstausch von 4,4 Prozent vor. Israel müsste dabei Gebiete beim Gazastreifen und im Westjordanland an den neuen palästinensischen Staat abtreten, sich komplett aus dem Westjordanland zurückziehen und eine dauerhafte Verbindung zwischen Gaza und dem Westjordanland ermöglichen. Im Gegenzug würde Israel bestimmte Gebiete im Westjordanland dauerhaft als Staatsgebiet erhalten, in denen eine grosse Siedlerpräsenz besteht.
Für al-Kidwa ist eindeutig: Ohne eine politische Lösung bleibt auch ein Waffenstillstand nur von begrenztem Nutzen. Der aktuell diskutierte vorübergehende Waffenstillstand könne höchstens kurzfristig humanitäre Erleichterung schaffen, löse jedoch nicht die grundlegende «Tragödie von Gaza».
Al-Kidwa betont deshalb gegenüber La Repubblica: «Wir brauchen neue Führungspersönlichkeiten in Israel und Palästina. Die aktuellen Regierungen sind nicht mehr fähig, die Interessen ihrer Völker zu vertreten.» Al-Kidwa kritisiert besonders die israelische Regierung unter Netanjahu als immer radikaler und ausser Kontrolle geraten.
Auch der Westen bleibt bei al-Kidwa nicht von Kritik gefeit. Er fordert eine klare Haltung westlicher Länder. Diese ist seiner Meinung nach entscheidend für Fortschritte im Friedensprozess. Vor allem eine Anerkennung durch Frankreich oder Grossbritannien würden ihm zufolge ein starkes Zeichen für eine Zwei-Staaten-Lösung setzen.
Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, nach einem möglichen Kriegsende eine Rolle in einer neuen Verwaltung des Gazastreifens zu übernehmen, antwortet Nasser al-Kidwa kurz und entschlossen: «In Gaza ist die Lage schwierig und gefährlich. Trotzdem ist dies unser Land, unsere Heimat – und ich werde nicht weglaufen, wenn es darauf ankommt.» (ear)
Also brauchen alle handlungsfähigen Akteure den Krieg existentiell. Ohne Druck von aussen geht da nichts.