Die Vorwürfe, die derzeit den Vatikan auf Trab halten, sind heftig. Heftiger als auch schon. Auslöser ist ein Brief eines ehemaligen Botschafters des Vatikans in den USA, Carlo Maria Vigano. Im 11-seitigen Schreiben wirft Vigano Papst Franziskus, Papst Benedikt XVI. und weiteren führenden katholischen Kirchenvertretern vor, vom sexuellem Fehlverhalten des ehemaligen Kardinals Theodore McCarrick gewusst zu haben. Dieser soll Jahre zuvor als Priester und später auch als Bischof junge Männer und auch Minderjährige zu Sex genötigt haben.
Die Washington Post berichtet heute in einer ausführlichen Analyse über den «Fall McCarrick», auch weitere Medien bringen Details an die Öffentlichkeit, die viele Direktinvolvierte nicht an der Öffentlichkeit sehen wollen.
Erzbischof Carlo Maria Vigano war 2016 von seinem Posten in Washington D.C. zurückgerufen worden, der Vorwurf lautete, er sei in den konservativen amerikanischen Kampf gegen gleichgeschlechtliche Ehen verwickelt gewesen. Sein jetzt von zwei konservativen katholischen Seiten (National Catholic Register und LifeSite News) veröffentlichter Brief lässt die römisch-katholische Kirche regelrecht erzittern.
Gegenüber der «Washington Post» sagte Vigano: «Schweigen und Beten sind die einzigen Dinge, die sich eignen.» Mehr Informationen liess er sich nicht entlocken, mit Ausnahme der Bestätigung, dass er der Autor des Briefes sei.
Gelegen kommen die Vorwürfe Papst Franziskus nicht. Am Sonntag gab der 81-Jährige auf der Rückreise seines zweitägigen Irlandbesuches eine Pressekonferenz und sprach sich bei dieser dafür aus, Kinder mit homosexuellen Neigungen zum Psychiater zu schicken. Auf die Frage eines Journalisten, was er Eltern eines möglicherweise homosexuellen Kindes sagen würde, antwortete Franziskus, er würde ihnen raten «zu beten, nicht zu verurteilen, Gespräche zu führen, zu verstehen, dem Sohn oder der Tochter einen Platz zu geben».
Gerade in der Kindheit könne die Psychiatrie viel erreichen, fügte der argentinische Papst hinzu. 20 Jahre später sehe es anders aus. «Ich würde nie sagen, dass Schweigen ein Gegenmittel ist. Seinen Sohn oder seine Tochter mit homosexuellen Tendenzen zu ignorieren, ist ein Mangel an Väterlichkeit oder Mütterlichkeit.»
Zurück zu den Vorwürfen von Ex-Botschafter Carlo Maria Vigano. Auf diese ging der Papst nicht ein, er sagte aber gemäss «Washington Post», dass der Brief «für sich selbst spreche». «Ich habe die Erklärung heute Morgen gelesen und muss Ihnen und allen Interessierten Folgendes sagen: Lesen Sie das Statement aufmerksam und machen Sie Ihr eigenes Urteil.»
Das katholische Oberhaupt ist alles andere als unumstritten, seine Kirche kämpft derzeit mit Missbrauchsfällen in Irland, den Vereinigten Staaten, Australien und Chile. Nicht wenige Kritiker, darunter auch Vigano, fordern den Rücktritt des Papstes.
Letztendlich war das Schreiben Viganos der Gipfel einer Welle von Anschuldigungen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch und dessen Vertuschung durch Geistliche. Gerüchte, die bereits jahrzehntelang über McCarrick kursierten, explodierten diesen Juni, als Papst Franziskus den Kardinal suspendierte. Im letzten Monat wurde McCarrick zum ersten Kardinal überhaupt in der Geschichte der USA, der zurücktritt.
Jason Berry, ein Investigativ-Journalist und Autor aus New Orleans, hat mehrere Bücher über den Vatikan geschrieben. Er ist der Meinung, dass dies das erste Mal sei, dass ein Papst von innen beschuldigt werde. «Aus der Hierarchie des Vatikans, aus der Römischen Kurie, glaube ich nicht, dass jemals jemand einen Papst öffentlich beschuldigt hat, einen Sexualstraftäter zu decken», sagte Berry. «Deshalb ist das so eine grosse Sache.»
Besonders brisant ist, dass Vigano angibt, seine Oberen im Vatikan bereits 2006 und 2008 über die Vorwürfe gegen McCarrick informiert zu haben. Er habe jedoch keine Antwort erhalten. Erst später habe Vigano erfahren, dass Papst Benedikt XVI. McCarrick verboten habe, öffentliche Messen zu feiern, Vorträge zu halten oder Reisen zu unternehmen. Wie «Domradio.de» schreibt, sei McCarrick ein Leben in Gebet und Busse aufgetragen worden. Allerdings hat sich der Bestrafte nicht ansatzweise an die Massregeln gehalten. Er trat regelmässig als Redner auf, war diplomatisch aktiv und gab anlässlich der Papstwahl im Jahr 2013 rund um die Uhr Fernsehinterviews.
Inwiefern die Vorwürfe im Brief Viganos stimmen, ist derzeit nicht klar. Die angesprochenen Verbote an McCarrick wurden nie öffentlich bekannt. «Domradio.de» zitiert jedoch eine Teilnehmerin der Gespräche mit Missbrauchsopfern am Samstag in Dublin. Gemäss dieser offenbarte Papst Franziskus, dass er erst vor kurzem sichere Kenntnis über McCarrick erhalten und dann unverzüglich reagiert habe.
Auch Marie Collins schrieb am Sonntag auf Twitter, dass McCarrick beim Treffen mit Franziskus in Dublin ein Thema gewesen sei. Collins, ehemaliges Mitglied der päpstlichen Kinderschutzkommission und selbst Missbrauchsopfer, sagte, dass Franziskus den 88-jährigen McCarrick sofort aus dem Kardinalsstand entlassen habe, sobald er von der Wahrheit der Vorwürfe überzeugt gewesen sei.
Sollte sich die Darstellung von Carlo Maria Vigano als richtig erweisen, wonach Franziskus von den Vorwürfen gewusst, aber geschwiegen habe, müsse er «zur Verantwortung gezogen werden wie jeder, der vertuscht».