Ein Mädchen singt in einem Bunker ein Lied, eine Familie liegt nach einem Bombenangriff tot auf der Strasse, schwangere Frauen werden nach dem Angriff auf ein Spital auf Bahren über eine Kraterlandschaft getragen, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht per Videocall zur Bevölkerung. Während wir im Zug sitzen und zur Arbeit pendeln. Im Bett liegen. Im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen.
Dass über Krisen und Kriege live berichtet wird, ist nicht neu. Die Präsenz, die sie nun auf unseren Handys haben, hingegen schon. Ob auf Instagram, Tiktok, Facebook oder Twitter: Die Timelines sind voll mit Bildern direkt aus der Hölle. Noch nie war ein Krieg so nah.
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Die grosse Betroffenheit und das daraus resultierende Mitgefühl führen derzeit zu einer beispiellosen Welle der Solidarität. «Zuerst leiden wir mit den Betroffenen mit, ihre Ohnmacht überträgt sich auf uns. Um aus diesem Gefühl auszubrechen, engagieren wir uns, gehen demonstrieren, spenden Geld, bieten Wohnungen für Flüchtende an.» Das seien die positiven Effekte, die solche Bilder auf uns haben, sagt Matthis Schick. Er ist leitender Arzt an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am Unispital Zürich.
Gleichzeitig sei die Situation schwer einzuschätzen, unberechenbar, bedrohlich. Als ehemaliger Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer weiss Schick, wie sich Kriegsbilder auf die Psyche auswirken. Derzeit sei es ein Gemisch von verschiedenen Emotionen, die viele spürten: Sorgen, Ängste, Mitgefühl, Verunsicherung. «Ein Gefühlschaos.» Im Extremfall könne die ständige Berieselung mit dramatischen Bilder auch krank machen. Schlaflosigkeit und Unrast seien mögliche Folgen dieser Überlastung.
Etwas, das auch der Medienpsychologe Daniel Süss beobachtet. Wichtig sei deshalb, dass man sich eine Begrenzung auferlege. Er rät, sich immer wieder bewusst auch anderen Themen zuzuwenden. «Ansonsten werden die Bilder zu einem Dauerstress. Man fühlt sich hilflos oder wütend und zugleich machtlos.» Man könne sogar in eine depressive Stimmung fallen, so Süss.
Der Trauma-Experte Schick sagt, generell sei es aber so, dass nach einer Weile eine Gewöhnung einsetze. Das mediale Interesse nehme ab, die Bilder verschwänden langsam wieder. Die Situation in der Ukraine wird berechenbarer, wahrscheinlich nicht besser, aber einschätzbarer.
Dieses Abstumpfen sei völlig normal – gesund sogar. «Unser Gehirn ist so programmiert, dass es das aufsaugt, was neu und bedrohlich ist.» Evolutionsbiologisch mache das Sinn. Im Verlauf gewöhne man sich bis zu einem gewissen Grad an die Bilder, sie seien nicht mehr neu, nicht mehr spektakulär und wirken auch nicht mehr so bedrohlich.
«Es kommt zu einer emotionalen Entkopplung. Das ist quasi ein Schutzmechanismus unseres Kopfes, der verhindert, dass wir uns gefühlsmässig überlasten.» Für uns und unseren psychischen Gesundheitszustand sei das zwar gut, aber für die direkt Betroffenen schlecht. «Sie sind auch langfristig auf unsere Solidarität angewiesen», sagt Schick. Das gelte sowieso für alle Flüchtenden. Auch für die Syrer und Afghanen, die derzeit an der polnisch-belarussischen Grenze erfrieren, aber keinerlei mediale Aufmerksamkeit mehr erhielten.
Ein weiterer problematischer Aspekt bei den Kriegsbildern auf unserem Handy beobachtet Medienpsychologe Daniel Süss. Es werde immer schwieriger, einzuordnen, welche Bilder echt seien und welche nicht, was Propaganda sei, was Fake News. «Während die Bilder in den herkömmlichen Medien aussortiert und eingeordnet werden, erreicht die Bilderflut auf Social Media die User ungefiltert.» Gerade auf Tiktok und Instagram fehle bei brutalen Fotos oder Videos oft der Kontext. Das sei insbesondere bei Kindern und Jugendlichen heikel. «Sie brauchen eine Einordnungshilfe. Gut ist, wenn sie sich untereinander und mit Erwachsenen über das Gesehene austauschen», sagt Süss.
Alles in allem findet Süss die Möglichkeit, unmittelbar aus dem Kriegsgebiet Bericht zu erstatten, eine durchaus gewinnbringende Entwicklung. «Dadurch, dass heute praktisch alle ein Handy mit dabei haben, können Beobachtungen extrem schnell im Netz verbreitet und multipliziert werden.» Wichtig sei, dass die Bilder von Profis verifiziert werden. Auch Trauma-Experte Schick sieht neben den problematischen Seiten auch positive Aspekte bei der Verbreitung solcher Bilder: So erreicht man die Menschen emotional, wodurch eine Solidarisierung stattfindet.
Eine zusätzliche Belastung dieser tragischen Lage in der Ukraine ist, dass sie ziemlich nahtlos auf zwei Jahre Pandemie folgt. Jetzt, da die meisten Massnahmen weggefallen sind, hätten sich wohl alle etwas Luft zum Durchatmen gewünscht. «Dazu kommt auch noch der Klimawandel und wir haben das Gefühl, mit der Welt gehe es bergab», sagt Psychiater Schick.
Oder aber, man versuche es positiv zu sehen. «In den letzten zwei Jahren haben wir uns alle Strategien erarbeitet, die uns das psychische Überleben in der Pandemie ermöglicht haben.» Sport, soziale Vernetzung, Entspannen, besser auf sich Acht geben – was sich in der Pandemie bewährt habe, könne man auch in den nächsten Monaten nutzen, wenn sich die Weltlage weiterhin verschlechtere.
Nur das Gefühl, oder die unangenehme Wahrheit?
Seit ein paar Tagen schaue ich keine Videos mehr, lese nur noch 1-2 Artikel zum Thema pro Tag. Ich kann mittlerweile wieder besser schlafen.
(Ja, den Leuten geht es schlechter als mir, sie haben alles verloren, sie schlafen auch nicht gut. Ich weiss.)
Gefühlte Ignoranz. Ski fahren und apres Ski Partys und edel shopen.Am 3 Kriegs Tag war ich alleine in St.Moritz mit Plakat ( Putin stop war) und Kerze. Wurde belächelt, ja sogar von drei jungen Frauen Touristen im Pelz ausgelacht. Mit dem Spruch " der einzige gegen Putin".Heute war ich wieder der einzige in gedenken an die Kinder und Frauen die Putin tot bombt.An alle die an Demos teilnehmen unter tausenden. Sag euch eins, alleine dies zu tun braucht echt Überwindung. Alle Russen Villen im Engadin den Ukrainischen Frauen und Kinder ein Zuhause geben