Die Ukraine in der EU – geht das gut? Die wichtigsten Antworten zum möglichen Beitritt
Ein grosser Tag steht an: Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs werden der Ukraine heute Donnerstag den Status eines EU-Beitrittskandidaten zusprechen. Es ist eine hochsymbolische Geste der Solidarität gegenüber einem Volk, das gerade um seine Existenz kämpft.
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Aber ist es auch mehr als das? Oder wird dem von Korruption durchwachsenen Land bloss ein Versprechen gemacht, das ohnehin nie eingelöst wird? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Warum will die Ukraine überhaupt in die EU?
Nach der russischem Überfall flüchtet sich Kiew in die Arme der Europäischen Union. Es ist die Fortsetzung des Weges Richtung Westen, den das Land mit dem EU-Assoziierungsabkommen und mit den Euromaidan-Protesten 2013/14 begonnen hatte. Die Ukrainer und Ukrainerinnen versprechen sich vom EU-Beitritt nicht nur wirtschaftliche Vorteile. Sondern auch den Schutz ihrer Demokratie und individuellen Freiheitsrechte.
Wer ist dafür? Wer ist dagegen?
Die EU-Schwergewichte Deutschland und Frankreich waren lange skeptisch. Und sie sind es auch heute noch. Aber wenn sie der Ukraine die Türe vor der Nase zuschlagen, gewinnt Russland. Es gehe darum, in einem «historischen Moment strategisch zu handeln», sagt die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock. Entschiedene Befürworter eines Beitritts sind die Osteuropäer und Balten. Staaten wie die Niederlande, Dänemark und Portugal sind dagegen, werden aber unter Zähneknirschen einlenken.
Bis wann soll die Ukraine der EU beitreten?
Das könnte Jahrzehnte dauern. Die Staats- und Regierungschefs sind sich einig, dass es keinen «Rabatt» oder Schnellbeitritt geben wird. Es ist auch nicht so, dass der Kandidatenstatus automatisch in einem Beitritt mündet: Die Türkei ist seit 1999 Kandidat und seit 2005 laufen Verhandlungen. Trotzdem ist das Land weiter von einem Beitritt entfernt als je zuvor. Auch die Staaten des Westbalkans sind seit Jahren Kandidaten oder führen Verhandlungen, ohne dass es vorwärts geht.
Welche Bedingungen muss die Ukraine erfüllen?
Zuallererst muss der Krieg beendet sein. Beitrittsverhandlungen mit einem Land im Krieg sind praktisch unvorstellbar. Dann muss die Ukraine eine lange Liste an Bedingungen erfüllen, die sogenannten «Kopenhagener Kriterien». Am schwierigsten wird es bei der Rechtstaatlichkeit und Korruption. In Europa schneidet hier nur Russland noch schlechter. Das Staatswesen und die ukrainische Elite sind mit Korruption durchsetzt. Bei der Unabhängigkeit der Justiz gibt es schwere Mängel.
Kann Kiew das schaffen?
Beobachter zweifeln tatsächlich, dass die Ukraine auf absehbare Zeit beitrittsfähig werden kann. Kiew muss seine Gesetze umkrempeln und dem über 100’000 Seiten umfassenden EU-Recht anpassen. Der Einfluss der mächtigen Oligarchen müsste abgestellt werden. Auf der anderen Seite: Der Krieg hat alles verändert und in der Ukraine zu einem nationalen Schulterschluss geführt. Könnte unter diesen Vorzeichen ein Quantensprung bei der Korruptionsbekämpfung und bei der Rechtstaatlichkeit gelingen? Ukrainische Politiker sagen: Ja.
Was spricht gegen einen Beitritt?
Die Ukraine ist meilenweit entfernt, wirtschaftlich mit den EU-Staaten konkurrenzfähig zu sein, was ein zentrales Kriterium für einen erfolgreichen Beitritt ist. Die Wertschöpfung pro Kopf liegt in der Ukraine dreimal tiefer als in Bulgarien, dem ärmsten aller EU-Lander, und mehr als 12mal unter jener Deutschlands.
Wie würde ein Beitritt der Ukraine die EU verändern?
Die Ukraine würde auf einen Schlag das flächenmässig grösste Land in der EU und mit seinen 44 Millionen Einwohner auf Platz fünf bei der Bevölkerungszahl. Mit seinen riesigen Agrarflächen würde es zu einem der Hauptempfänger der Landwirtschaftssubventionen und der Kohäsionshilfen, die heute rund drei Viertel des EU-Budgets ausmachen. Das Gleichgewicht innerhalb der EU würde sich nach Osten verlagern.
Hört die EU-Erweiterung jemals auf?
Prinzipiell kann jedes Land auf dem europäischen Kontinent ein EU-Beitrittsgesuch stellen. Mit der Türkei und Serbien laufen Verhandlungen, wenn auch ohne Fortschritte. Neben der Ukraine wird auch die Republik Moldawien jetzt den Kandidatenstatus erhalten. Diesen haben schon Albanien, Montenegro, Nordmazedonien inne. Bosnien-Herzegowina und Kosovo sind Anwärter. Georgien möchte ebenfalls auf die Kandidatenliste, ist in den Augen der EU aber noch nicht so weit.
Droht sich die EU zu überdehnen?
Wo Europa anfängt und wo es aufhört, ist umstritten. Mit Georgien als Mitglied könnte sich die EU dereinst bis ans kaspische Meer ausdehnen.
Muss sich die EU verändern, damit sie die Ukraine aufnehmen kann?
Will sie ihre Aufnahmefähigkeit nicht verlieren, muss sich die EU reformieren, fordern nun viele. Die Mitgliederzahl hat sich seit 1995 mehr als verdoppelt. 20014 wurden auf einen Schlag zehn neue Mitglieder aufgenommen. Heute kommt der Staatenbund ans Limit der Handlungsfähigkeit. Der Europäischen Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, entscheidet einstimmig. Immer wieder kommt es zu langen Blockaden aus nationalem Kalkül. Diese Einstimmigkeitsregel gerät immer mehr unter Druck.
Was gibt es für Alternativen zum Beitritt?
Der französische Präsident Emmanuel Macron schlägt die Bildung einer neuen «politischen Gemeinschaft Europas» vor. Sie würde jenen Länder offenstehen, welche demokratische Werte und geopolitische Interessen teilen, aber der EU nicht oder noch nicht beitreten wollen beziehungsweise können. Das Konzept ist noch unausgegoren und wird am Donnerstag beim EU-Gipfel erstmals besprochen. Neben einer Vollmitgliedschaft gibt es aber auch Alternativen wie den Europäischen Wirtschaftsraum EWR und die Efta-Freihandelszone, der auch die Schweiz angehört.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Ukraine muss erst wichtige Reformen umsetzen, bis die Beitrittsverhandlungen überhaupt starten können. Die EU-Kommission wird in einem Jahr eine Zwischenbilanz ziehen. Für den Verhandlungsstart müssen die EU-Staats- und Regierungschefs erneut einstimmig grünes Licht geben. In welchem Tempo es dann weiter geht, hängt vom ukrainischen Engagement und Reformwillen ab. (aargauerzeitung.ch)
