Mindestens 39 Tote Zivilisten bei Raketenangriff auf Bahnhof in der Ostukraine
Bei dem Raketenangriff auf den Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk sind nach Angaben des ukrainischen Geheimdiensts SBU mindestens 39 Menschen getötet worden. Bei den Opfern handle es sich um 35 Erwachsene und vier Kinder, teilte der SBU am Freitag mit. Mehr als Hundert weitere seien verletzt worden, teilte die ukrainische Eisenbahngesellschaft mit. Zuvor war von mindestens 30 Toten und 100 Verletzten die Rede gewesen. Zwei Raketen seien in das Gebäude eingeschlagen, von dem aus Evakuierungszüge aus dem Osten der Ukraine in sicherere Regionen im Westen des Landes abfahren.
Nach Angaben des Gouverneurs des Verwaltungsbezirks Donezk, Pawlo Kyrylenko, hielten sich zum Zeitpunkt des Angriffs Tausende Menschen in dem Bahnhof auf. Er veröffentliche ein Foto, auf dem mehrere auf dem Boden liegende Körper zu sehen waren, neben zahlreichen Koffern und Taschen.
Ein anderes Bild zeigt Einsatzkräfte, die offensichtlich versuchen, einen Brand zu löschen. «Die russischen Faschisten wussten sehr genau, wohin sie zielten und was sie wollten: Panik und Angst säen, sie wollten so viele Zivilisten wie möglich treffen», schreibt Kyrylenko dazu.
«Grenzenlos böse»
Vor dem Bahnhofsgebäude standen ausgebrannte Autos, am Eingang und in der Bahnhofshalle waren Blutlachen und verkohlte Sitzbänke zu sehen. Auf dem Bahnhofsvorplatz lagen die Überreste einer Rakete mit der russischen Aufschrift «Für unsere Kinder». Der Platz war mit verlassenen Gepäckstücken, Scherben und Splittern übersät.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte Russland für die Attacke verantwortlich. Seinen Angaben zufolge handelte es sich bei den Geschossen um Raketen des Typs Totschka-U. Selenskyj warf Russland vor, die Zivilbevölkerung seines Landes «zynisch zu vernichten». «Dies ist das grenzenlose Böse», sagte er in einer Videoansprache vor dem finnischen Parlament. «Und wenn es nicht bestraft wird, wird es nie aufhören.»
Kreml weist Schuld von sich
Auch die prorussischen Separatisten hatten vom Raketentyp Totschka-U gesprochen, aber zugleich betont, ukrainische Truppen hätten sie abgefeuert. Der Gouverneur des Gebiets Donezk hatte zunächst von einer Iskander-Rakete berichtet. Die «Totschka-U» gelten als weniger zielgenau als Raketen vom Typ «Iskander», die Russland häufig eingesetzt hat.
«Unsere Streitkräfte nutzen diesen Raketentyp nicht», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow jedoch am Freitag russischen Agenturen zufolge. Er bezog sich dabei auf den mutmasslich verwendeten Typ «Totschka-U». Militärexperten bezweifeln diese Darstellung. «Ausserdem gab es keine Kampfeinsätze in Kramatorsk, und es waren heute auch keine geplant», sagte Peskow weiter. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig voneinander überprüfen.
Dieses Bild kursiert in den sozialen Medien und soll angeblich eine der beiden Rakete zeigen, die beim Bahnhof eingeschlagen sind.
“For the children”. That’s what’s written on the Russian missile with forbidden cluster ammunition that hit #Kramatorsk railway station this morning and killed at least 30 civilians, wounded 100. They were trying to flee the area. #vrtnws #UkraineRussiaWar pic.twitter.com/Zo6KsNqGIp
— Tom Van de Weghe (@tomvandeweghe) April 8, 2022
Weiter vermeldete das russische Verteidigungsministerium über die staatliche Nachrichtenagentur Interfax: «Nach aktualisierten Daten wurde der Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk von einer Raketendivision der ukrainischen Streitkräfte aus dem Gebiet der Siedlung Dobropolye, 45 Kilometer südwestlich der Stadt», durchgeführt.
Im Nachrichtendienst Telegram hingegen kursiert ein Video, das den Abschuss der Raketen aus der Nähe von Schachtarsk zeigen soll. Die Stadt liegt in der von prorussischen Separatisten kontrollierten Region des Gebiets Donezk.
Das russische Militär liess sich ebenfalls von Interfax zitieren: «Der Zweck des Angriffs des Kiewer Regimes auf den Bahnhof in Kramatorsk bestand darin, den Massenexodus der Einwohner aus der Stadt zu unterbrechen, um sie als ‹menschlichen Schutzschild› zu benutzen, um die Positionen der Streitkräfte der Ukraine wie in vielen anderen zu verteidigen andere Siedlungen der Ukraine.»
Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell verurteilte den Raketenangriff auf den Bahnhof scharf. Es handele sich um einen «weiteren Versuch, die Fluchtwege für diejenigen zu versperren, die vor diesem ungerechtfertigten Krieg fliehen wollen», schrieb Borrell am Freitag auf Twitter. Der Aussenbeauftragte machte Russland für den Angriff verantwortlich.
I strongly condemn this morning’s indiscriminate attack against a train station in #Kramatorsk by Russia, which killed dozens of people and left many more wounded. This is yet another attempt to close escape routes for those fleeing this unjustified war and cause human suffering
— Josep Borrell Fontelles (@JosepBorrellF) April 8, 2022
Menschen wollten fliehen
Kramatorsk liegt in dem Teil des umkämpften ostukrainischen Gebiets Donezk, der von der Ukraine kontrolliert wird. Prorussische Separatisten erheben Anspruch auf das gesamte Verwaltungsgebiet. Die Menschen, die Koffer und Taschen bei sich hatten, wollten aus Angst vor Angriffen die Stadt verlassen. Auch von den Separatisten hiess es, in Kramatorsk sei gerade eine Evakuierung gelaufen, Menschen sollten in Sicherheit gebracht werden.
Der Angriff auf Kramatorsk lenkt das Augenmerk stärker als zuvor auf den Donbass. Russland hatte angekündigt, seine Angriffe auf die Region zu konzentrieren und wohl auch deshalb seine Truppen aus der Nordukraine abgezogen. Dort war der Angriff auf Kiew nach Ansicht westlicher Militärexperten gescheitert. Der Kreml nennt den Rückzug hingegen ein «Zeichen des guten Willens», um Vertrauen für Verhandlungen zu schaffen.
Auch die Ukraine verstärkt ihre Stellungen. Aussenminister Dmytro Kuleba warb bei der Nato in Brüssel um deutlich mehr Waffen. «Die Schlacht um den Donbass wird Euch an den Zweiten Weltkrieg erinnern, mit grossen Operationen, Tausenden Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Flugzeugen und Artillerie», sagte Kuleba.
In der Nacht zum Freitag meldete der ukrainische Generalstab dann auch, dass Russland weiter Truppen im Donbas zusammen ziehe. «Wir spüren das Ende der Vorbereitungen für diesen grossen Kampf, den wir in den Regionen Luhansk und Donezk haben werden», sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj.
Die Ukraine hat die Bevölkerung in den Bezirken Luhansk und Donezk nun aufgerufen, die Region zu verlassen. Teile der Region werden seit 2014 von prorussischen Separatisten beherrscht.
(mit Material von sda/dpa)

