Das hatte er sich anders vorgestellt: Wladimir Putin hat die russische Armee in einen blutigen Ukraine-Krieg geführt. Die Soldaten legen ganze ukrainische Städte in Trümmer, Tausende Zivilisten sterben, Millionen weitere sind auf der Flucht. Militärisch gibt es auf beiden Seiten hohe Verluste, die Invasion ramponiert die russische Wirtschaft und isoliert Russland von der Welt.
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Es ist völlig unklar, was der russische Präsident in der Ukraine überhaupt gewinnen will. Die Besetzung der ganzen Ukraine scheint für Russland kaum realisierbar und selbst, wenn sich Putin mit weniger Landgewinnen zufriedengeben wird, dann scheint aktuell auch kein Szenario denkbar, wie russische Truppen das ukrainische Territorium befrieden sollen – ohne die Beseitigung oder die Umsiedlung der Zivilbevölkerung. Russland findet sich plötzlich in einem Krieg wieder, den man so eigentlich nicht geplant hatte, aber aus dem es kaum einen Ausweg gibt.
Die eigenen Planungsfehler rächen sich: Putin ist ein Aggressor, der langsam die Kontrolle über diesen Krieg verliert. Der Kreml geht in Russland gegen jegliche Kritik mit äusserster Härte vor, die russische Propaganda streut hasserfüllte Desinformation. Diese Methoden zeigen vor allem eines: Putin hat Angst – Angst vor der eigenen Bevölkerung im Angesicht der Katastrophe, in die er sein Land geführt hat.
Aber gibt es erste Risse in der Kremlführung? Für Aufsehen sorgte am Donnerstag Kremlsprecher Dimitri Peskow . Der enge Putin-Vertraute gab dem britischen TV-Sender Sky News ein Interview, allein dieser Umstand ist bemerkenswert in diesen Kriegszeiten. «Wir haben bedeutende Verluste, das ist eine gewaltige Tragödie für uns», sagte Peskow.
Das war ein Paukenschlag, schliesslich stellt Moskau den Ukraine-Krieg noch immer als «Spezialoperation» dar und beziffert die eigenen Verluste als vergleichsweise niedrig. Zuletzt hatte Russland von 1351 getöteten Soldaten gesprochen, die Ukraine geht von mehr als zehnmal so vielen Verlusten aus.
"We have significant losses of troops".Vladimir Putin's press secretary Dmitry Peskov says it's a "huge tragedy to us" to have lost Russian troops during the war in Ukraine.https://t.co/X3flQUBL0r📺 Sky 501, Virgin 602, Freeview 233 and YouTube pic.twitter.com/PGHoFvdewb— Sky News (@SkyNews) April 7, 2022
In jedem Fall kann die Zahl der russischen Verluste aktuell nicht genau beziffert werden, doch dank Peskow ist nun klar: Sie sind hoch. Aber Putins Sprecher ging noch weiter, indem er in dem Interview eine mögliche Erweiterung der Nato um Finnland und Schweden nicht als «existenzielle Bedrohung» für Russland bezeichnete. Wenn es dazu käme, müsse Russland seine Westflanke stärken, um für Balance zu sorgen. Das schwächt das russische Narrativ, das teilweise Vorwand für diesen Krieg war: die Bedrohung Russlands durch die Nato.
Peskow nannte das Verteidigungsbündnis zwar auch «Maschine für eine Konfrontation» und bediente erneut das russische Kriegsnarrativ, dass eine «Entnazifizierung» der Ukraine nötig sei – aber der Schaden für die russische Propaganda ist trotzdem gross.
Russische Nationalisten wüten nach dem Interview gegen Peskow. Putins Sprecher würde mit derartigen Aussagen die Kampfmoral der eigenen Armee untergraben, er sei ein «Verräter», er würde dem Kremlkritiker Alexej Nawalny nahestehen und womöglich vom Westen erpresst werden, weil seine Tochter im Ausland leben würde, heisst es in prorussischen Telegram-Gruppen. Menschen, die für gewöhnlich Putins Krieg in der Ukraine feiern, fordern nun seine Entlassung.
Bereits Anfang der Woche hatte Peskow für Ärger unter Nationalisten und in russischen Medien gesorgt, als er den aus Russland geflohenen TV-Moderator Iwan Urgant nach seiner Rückkehr als «grossen Patrioten» bezeichnete. Menschen, die aus Angst aus Russland fliehen, sollten nicht als Verräter bezeichnet werden, so der Kremlsprecher.
Darauf reagierte sogar Ramsan Kadyrow: «Ich wusste es nicht, aber es stellt sich heraus, dass man, um ein Patriot seines Landes zu werden, die Aktionen Russlands kritisieren, ins Ausland gehen und laut und erbärmlich sein muss, um Aufsehen um die eigene Person zu erzeugen», sagte der tschetschenische Diktator. «Und dann, wenn sich die Konfrontation abgekühlt hat, kehren sie zurück, als ob nichts passiert wäre.»
Was Peskow zu diesen Aussagen bewegt, ist völlig unklar. Hat er versehentlich die Wahrheit gesagt oder stellt sich der Putin-Vertraute gegen seinen Präsidenten? Es könnte sich auch um Taktik handeln: Russland könnte damit versuchen, in westlichen Medien von den Massakern abzulenken, die die russische Armee mutmasslich in Butscha verübt hat. Ausserdem wäre es bestimmt im Interesse der russischen Führung, dass die eigene Bildungselite nicht aus dem Land flieht und dass Anreize für eine mögliche Rückkehr geschaffen werden.
Doch selbst wenn Peskow taktisch handelte, ist der Effekt negativ für die russische Kriegspropaganda. Der Kremlsprecher hat ein Bild der Uneinigkeit in der politischen Führungsebene Russlands gezeichnet und Putin wirkt so, als habe er seinen Laden nicht mehr im Griff. Zwar gibt es noch keine Anzeichen für eine Revolte gegen Putin in Moskau, aber wenn sich Teile der politischen Eliten in der aktuellen Lage öffentlich streiten, ist das am ehesten Ausdruck der gegenwärtigen Führungsschwäche des Kremlchefs.
Es kommt nun darauf an, wie Putin auf Peskows Interview reagieren wird. In den vergangenen Wochen wirkte der Präsident oft wütend und frustriert. Vor allem Generäle der Geheimdienste und der Nationalgarde wurden von ihm entlassen oder unter Hausarrest gestellt .
Aber warum wütet Putin, wenn doch alles nach Plan läuft? Im Prinzip können wir nur mutmassen, wie Russland diesen Feldzug geplant hat. Lediglich zwei folgenschwere Fehleinschätzungen lassen sich durch die militärischen Entwicklungen deutlich erkennen:
Für Russland ging eigentlich von Anfang an alles schief. Vieles spricht dafür, dass die Invasion der Ukraine von der russischen Generalität gar nicht als Krieg geplant war. Schliesslich hat Russland nach 2014 die Erfahrung gemacht, dass man auf der Krim und im Donbass mit Blumen empfangen und von einem Teil der Bevölkerung sogar gefeiert wurde. Gleichzeitig fanden die russischen Kräfte vor mehr als sieben Jahren eine ukrainische Armee vor, die in einem desolaten Zustand war.
Das verleitete die russische Führung offenbar zu einem Operationsdesign, das in der Sowjetunion eigentlich zur Befriedung von Satellitenstaaten entworfen wurde. So gibt es zwischen der russischen «Operation Z» in der Ukraine und der sowjetischen «Operation Donau» von 1968 in der Tschechoslowakei sehr viele Parallelen. Diese Planung geht nicht von einem «Blitzkrieg» aus, sondern vielmehr soll eine massive Übermacht aus allen Himmelsrichtungen auf eine Hauptstadt vorstossen und die politische Führung austauschen.
Finally, Soviet/Russian army had to perform pacifications in the satellite states. It gives context for the logic of Z-operation. It wasn't planned as a war. They designed it as a pacification modelled after the Operation Danube, 1968. Russian sources are quite open about it pic.twitter.com/0yNjjxyQvG— Kamil Galeev (@kamilkazani) April 6, 2022
Die Sowjets beendeten den Prager Frühling 1968 mit knapp 500'000 Mann, die Operation war besser geplant als Putins Krieg in der Ukraine. Aber beide Operationen zeichnen ähnliche Merkmale aus:
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Putin damit gerechnet hat, dass sich die Ukraine schnell ergeben würde. Er hat den Widerstandswillen unterschätzt und auch die militärische Ausrüstung nicht ernst genommen, mit der westliche Länder die Ukraine beliefert haben. Schliesslich musste dann eine viel zu kleine russische Streitmacht einen Krieg in zu vielen Orten in der Ukraine führen – und anfangs war sie nicht einmal dafür ausgerüstet.
Die Folgen dieser Fehleinschätzungen sind für Russland eine Katastrophe:
Diese sehr realitätsferne Sicht auf die Ukraine ist der grundlegende Fehler des militärischen Dilemmas, in dem Russland gegenwärtig steckt.
Dem russischen Präsidenten wurde offenbar ein schneller und unblutiger Sieg versprochen. Zwar waren wahrscheinlich die Sanktionen des Westens eingepreist, aber die Härte und langfristigen Folgen der Strafen gegen Russland wären nicht so immens ausgefallen, wenn Putins Soldaten in der Ukraine ohne grossen Widerstand empfangen worden wären. Das ist nicht passiert.
Nun findet sich die russische Armee in einem Krieg wieder, den es erst mal gewinnen muss. Zwar ist Russland die drittgrösste Militärmacht der Welt, doch viele Soldaten sind in anderen Ländern oder zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit in Russland gebunden.
Russische Soldaten sind in Syrien, Putins Söldner kämpfen in Libyen und in anderen Teilen Afrikas und die russische Armee berät Armenien im Konflikt um Berg Karabach und muss noch diverse Aufgaben im Kaukasus wahrnehmen.
Moskau gehen langsam schlichtweg die Kräfte aus und Militärexperten rätseln darüber, warum die russische Armee in der Ukraine mehr veraltete Bomben anstatt Präzisionswaffen einsetzt.
Die russische Armee wurde zwar von Putin modernisiert, aber Russlands Verteidigungsausgaben sind mit 61.7 Milliarden Dollar im Jahr 2020 im Angesicht dieser Aufgabenfülle nicht hoch. Hinzu kommt, dass die russische Armee eine Vielzahl von modernisierten Panzern aus der Sowjetunion ins Feld führt, die der modernen Panzerabwehr der Ukraine nicht viel entgegenzusetzen haben. Auch die russischen Kampfdrohnen sind im Vergleich zur türkischen «Bayraktar TB2», die die Ukraine einsetzt, in der Entwicklung hinterher.
Es scheint, als habe sich Russland im Ukraine-Krieg militärisch verhoben – was jedoch nicht heissen soll, dass Putin den Krieg verlieren wird. Die russische Armee ist noch immer bis an die Zähne bewaffnet und kann auf mehr Reserven an Soldaten, Waffen und militärischem Gerät zurückgreifen als das kleine Nachbarland. Schliesslich könnte Putin noch immer die Generalmobilmachung in Russland ausrufen, dann müsse man allerdings auch vonseiten des Kremls von einem Krieg sprechen.
Der russische Präsident wird sich nicht ohne etwas aus der Ukraine zurückziehen, was er als Teilerfolg verkaufen kann. Schliesslich gibt es eigene hohe Verluste, der Krieg ist teuer, die Sanktionen gegen Russland sind hart und bislang hat Moskau nichts gewonnen, im Gegenteil: Russische Soldaten mussten sich aus dem Norden des Landes zurückziehen, weil sie so hohe Verluste erlitten, dass sie umgruppiert werden mussten. Der russische Rückzug aus Kiew wirkte eher wie eine Flucht und nicht wie eine strategische Verlegung.
Letztlich stellt sich nun die Frage, ob Putin die Ukraine in einen langen Abnutzungskrieg zwingen will oder ob er sich am Ende mit dem Donbass und den südlichen Landbrücken zur Krim zufriedengeben wird. Aber auch diese Ziele werden ohne eine massive Nachführung von Kräften aus Russland nur schwer zu erreichen sein.
Einen Plan B scheint der Kreml nicht zu haben, seit der anfänglichen Fehleinschätzung wirkt alles eher improvisiert. Trotzdem hat Putin durch seine Propaganda so viel Hass und Lügen streuen lassen, dass es für ihn keinen gesichtswahrenden Weg mehr gibt, sich militärisch zurückzuziehen.
Wenn er an der Macht bleiben will, muss er nun mindestens die Ostukraine besetzen und darauf hoffen, dass die russische Herrschaft dort zumindest teilweise von der Bevölkerung akzeptiert wird. Die Lage des Präsidenten macht die gegenwärtige Situation noch gefährlicher, denn er kann weder seinen Krieg noch seine Propaganda ohne Schaden für sich wieder einfangen. Putin steckt in der Zwickmühle.
Wenn einer Nation Gebiete genommen werden sollen, dann Russland aber sicher nicht der Ukraine!