Am Samstag eskalierte in Russland der Konflikt zwischen der Söldnerarmee Wagner und den regulären russischen Truppen. Experten vermuten hinter den Geschehnissen am Wochenende einen brodelnden Machtkampf in der militärischen Führung des Kremls. Am Montag ist nun eine weitere Theorie aufgetaucht. Was wir am Montag wissen:
Seinen «Marsch für Gerechtigkeit» begleitete Wagner-Führer Jewgeni Prigoschin mit ständiger Kommunikation. Doch seit er am Samstagabend die südrussische Stadt Rostow per Auto verliess, herrscht Funkstille. Laut einem russischen TV-Sender liess die Wagner-Medienstelle jedoch verlauten: «Er lässt alle grüssen und wird auf Fragen antworten, wenn er wieder normalen Empfang hat.»
Ebenfalls keine Kommunikation gab es seither von Verteidigungsminister Sergei Schoigu oder dem Chef des Generalstabes, Waleri Gerassimow. Prigoschin hatte in seinen Ansprachen während der Rebellion die Entlassung der beiden Kremlführer gefordert. Ob die Absetzung der beiden Teil des Deals vom Samstag gewesen sei, ist unklar.
Am Montagmorgen veröffentlichte der Kreml ein 47 Sekunden langes Video, das Schoigu bei einem Besuch im Kampfgebiet der Ukraine zeigen soll. Der Minister habe dort einen der vorderen Kommandopunkte besucht, hiess es. Unabhängig überprüfen liess sich das zunächst nicht.
Nur der russische Präsident Wladimir Putin selbst äusserte sich seit den Geschehnissen am Samstag öffentlich zu Wort. Er stehe in ständigem Kontakt zum Verteidigungsministerium und sei überzeugt, dass Russland alle Aufgaben in der Ukraine umsetzen kann.
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Weiterhin unklar bleibt, warum die Wagner-Truppen am Samstag in Richtung Moskau zogen. Am Montag verdichten sich jedoch die Anzeichen dafür, dass es sich um eine Verzweiflungstat gehandelt hat. Die Söldnerarmee gilt durch den Ukraine-Krieg als geschwächt und statt der 25'000 angegebenen soll Prigoschin nur mit 8000 schlecht ausgerüsteten Soldaten Richtung Moskau aufgebrochen sein.
Der deutsche Russland-Experte Stefan Meister geht deshalb davon aus, dass mit dem Marsch lediglich die Aufmerksamkeit des Kremls erregt werden sollte, wie er gegenüber «Focus» erklärt:
Ins gleiche Horn bläst auch der chinesische Experte für internationale Beziehungen, Wang Yiwei: «Progischin hat nicht einen Coup gegen die russische Regierung gestartet. Er wollte damit nur seine Unzufriedenheit mit der russischen Militärführung zum Ausdruck bringen und einen besseren Umgang mit den Wagner-Soldaten erreichen», so der Professor zur Global Times.
Nun taucht eine weitere Theorie zu den Geschehnissen in Russland auf: Das Ganze sei ein Bluff, um die Wagner-Truppen in Weissrussland zu stationieren, um von dort aus die Ukraine und den Westen erneut anzugreifen. Davor warnte zum Beispiel der deutsche Ex-General Roland Kather in einem Interview mit der «Welt am Sonntag». Der britische Ex-General Richard Dannat skizzierte ein ähnliches Szenario.
Tatsächlich gibt es laut Russland-Experte Meister diverse Ungereimtheiten:
Doch auch Meister selbst hält eine gemeinsame Inszenierung von Prigoschin und Putin für unwahrscheinlich. Das «Institute for the Study of War» (ISW) hält die Theorie gar für absurd. Eine heimliche Truppenverschiebung würde niemals in einem solchen Rampenlicht vollzogen.
Im Westen ist man sich mittlerweile hingegen einig, dass Prigoschins Aktivitäten besonders dem russischen Präsidenten geschadet haben dürften. Die Schwäche des russischen Regimes sei am Samstag deutlich zum Vorschein gekommen, so der Konsens.
Dem widersprechen diverse chinesische Experten, wie die Global Times schreibt. Die Rebellion habe innert weniger Stunden ihr Ende gefunden und sei somit eher ein Zeichen für Putins Stärke. Weiter sei er mit den Geschehnissen vom Samstag seinen schärfsten Kritiker los.
Laut dem britischen Geheimdienst habe sich auch der russische Geheimdienst am Stopp des Wagner-Marsches beteiligt. So seien kurz vor dem Rückzug mehrere Familien von Wagner-Soldaten direkt bedroht worden. Dies und die schlechte Ausrüstung der Wagner-Truppe habe Prigoschin zur Umkehr bewogen, schreibt der britische «Telegraph».
Die Hoffnung, der Ukraine-Krieg werde durch die internen Konflikte in Russland beendet, wurden am Wochenende enttäuscht. Wie das ISW am Sonntagabend schrieb, habe die Auseinandersetzung kaum Auswirkungen auf den Krieg in der Ukraine gehabt.
Sowohl die Ukraine als auch Russland bestätigten demnach, dass die Kämpfe weiter fortgeführt wurden. Rund um Bachmut hätten die russischen Militäroperationen gar noch zugenommen. Bisher liessen sich keine deutlichen ukrainischen Erfolge feststellen, der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow erklärte jedoch in einem Interview, die Gegenoffensive habe noch nicht wirklich begonnen. (leo)