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Russland: Putins neue Soldaten taumeln in den Kampf

«Ihr seid für euch selbst verantwortlich, ja?» – Putins neue Soldaten taumeln in den Kampf

Die Mobilmachung in Russland läuft chaotisch und willkürlich ab. Videos und Erzählungen von eingezogenen Reservisten zeigen das Bild einer Armee von Blinden und Lahmen.
03.10.2022, 19:57
Inna Hartwich, Moskau / ch media
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Smartphones sind eigentlich verboten in der russischen Armee. Und doch schaffen es auch die nun eingezogenen Reservisten immer wieder, ihre Geräte in die Kasernen zu schmuggeln. Die Bilder und Videos, die dadurch in den sozialen Medien zirkulieren, zeigen, wie chaotisch Putins ausgerufene «Teilmobilmachung» im Land offenbar abläuft.

Russian recruits walk to take a train at a railway station in Prudboi, Volgograd region of Russia, Thursday, Sept. 29, 2022. Russian President Vladimir Putin has ordered a partial mobilization of rese ...
Russische Rekruten in der Region Wolgograd.Bild: keystone

«Ich weiss nicht, was mit euch passiert. Ich weiss nicht, was mit mir passiert. Ich bin selbst vor drei Tagen erst hier angekommen», sagt eine Stimme in einem Video. Auf den Bildern sind Rücken von Menschen in Tarnfleck zu sehen, Männer in grauen Ohrenklappenmützen. Die Aufnahme soll in Batajsk aufgenommen worden sein, in der Region Rostow, nicht weit von der Ukraine entfernt. Die Stimme spricht weiter: «Man hat mich zum Kommandeur dieser Einheit gemacht. Ich habe es mit der Bandscheibe, muss zudem Betablocker nehmen.»

Es fehlt an fast allem

Ein anderes Video, offenbar aus Region Jekaterinburg, zeigt eine Frau zwischen schmalen Betten, vor ihr sind einige Männer zu sehen. «Ihr werdet schlafen, wo es möglich ist. Kleidung, Schlafsäcke, all das liegt nicht vor. Durchsucht eure Auto-Verbandskästen, holt Venenstauer daraus. Und, Männer, lacht jetzt nicht: Bittet eure Frauen und Mütter um Tampons und Damenbinden», sagt sie und fährt fort: «Die Tampons helfen bei einer offenen Wunde, kenne ich noch aus Tschetschenien. Die Binden braucht ihr als Einlagen in den Schuhen. Männer, ihr seid für euch selbst verantwortlich, ja?»

Die Aufnahmen und auch die wenigen Erzählungen der Angehörigen spiegeln die grössten Probleme der Mobilisierung wider. Es fehlt offenbar an Kleidung und Ausrüstung für die Reservisten, einberufen werden auch völlig Unerfahrene und Kranke. Manche berichten von Augenerkrankungen und HIV-Infektionen, manche brauchen einen Gehstock und werden dennoch eingezogen.

Nach wenigen Tagen meldete sich der russische Präsident öffentlichkeitswirksam zu Wort. «Es gilt, alle Fehler der Teilmobilmachung zu korrigieren und alle, die ohne triftigen Grund eingezogen wurden, nach Hause zu schicken», sagte Wladimir Putin. Manche der Einberufungsämter fahren mit ihrem bisherigen Prozedere weiter fort und nehmen jeden, den sie schnappen können.

Russian President Vladimir Putin listens to Russian Culture Minister Olga Lyubimova during their meeting in Moscow, Russia, Monday, Oct. 3, 2022. (Gavriil Grigorov, Sputnik, Kremlin/Pool Photo via AP)
Russlands Präsident Wladimir Putin gibt Fehler bei der von ihm angeordneten Teilmobilmachung zu.Bild: keystone

Ein einberufener Panzerfahrer erzählt in einem Video, dass er bereits am nächsten Tag an die Front solle. «Der Kommandeur hat bestätigt, dass es keine Vorbereitung gibt. Betet für mich. Oder auch nicht. Es ist eh alles schon entschieden.»

Ausreise wird immer schwerer

Viele russische Männer wollen sich der Willkür indes nicht beugen und verlassen in Scharen das Land. An die 300'000 Menschen sollen bereits die Grenze passiert haben, nach Finnland, Norwegen, in die Mongolei, nach Zentralasien und zum Südkaukasus. Allein nach Kasachstan sind laut kasachischen Behörden knapp 100'000 Russen geflohen. Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew sicherte den Menschen, die «wegen ihrer ausweglosen Lage kommen», wie er sagte, Hilfe zu.

Cars queuing toward the border crossing at Verkhny Lars between Russia and Georgia, leaving Chmi, North Ossetia - Alania Republic, in Russia, Thursday, Sept. 29, 2022. Long lines of vehicles have form ...
Rette sich wer kann: Stau an der russischen Grenze nach Georgien.Bild: keystone

Russische Behörden erschweren den Weggang, knapp 200 Männer sollen direkt an der Grenze den Einberufungsbescheid überreicht bekommen haben, teilten russische Behörden mit. Auch immer mehr aufnehmende Länder erschweren die Ausreise, weil sie Sicherheitsbedenken wegen der russischen Neuankömmlinge sehen und so ihre Grenzen für sie schliessen.

Viele, die in Russland bleiben, suchen nach Auswegen. Manche lassen sich gar die Beine brechen, um nicht eingezogen zu werden. Andere hoffen, dass sie wegen ihrer Berufe nicht in die Armee müssen. Das Ministerium für digitale Entwicklung zählt 195 Berufe auf, die von der Mobilisierung ausgeschlossen sein sollen: ITler, Marketing-Experten, Mitarbeiter von Medien, Psychologen.

Nach aussen soll alles nach geordneten Verhältnissen aussehen. Die Videos der Eingezogenen zeigen jedoch ein Bild voller Planlosigkeit: Männer, die auf blanker Erde in Zelten im Schnee schlafen, Männer, die sich am Feuer im Wald wärmen, die sagen: «So, mir reicht es, ich gehe jetzt nach Hause.» (aargauerzeitung.ch)

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quelle: keystone / alejandro zepeda
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Video: watson
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81 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Speedy70
03.10.2022 20:04registriert Juni 2021
Und alles wegen eines Irren und selbst Lawrow der intelligentere der Beiden ist seines Hirns beraubt worden🤷🏼‼️
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Liebu
03.10.2022 20:05registriert Oktober 2020
Manche berichten von Augenerkrankungen und HIV-Infektionen, manche brauchen einen Gehstock und werden dennoch eingezogen.

Tja. Die jungen gesunden konnten wohl davonrennen oder sahen wenigstens, wo sie sich verstecken können.
Wer das nicht schaffte, wurde eingezogen.
So gesehen würde Putin an der Front gut ins Bild der Russen passen.
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So oder so
03.10.2022 20:08registriert Januar 2020
«Man hat mich zum Kommandeur dieser Einheit gemacht. Ich habe es mit der Bandscheibe, muss zudem Betablocker nehmen.»

Das ist ein Witz oder ? dann wart mal bis der Winter kommt mit deiner Bandscheibe.
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