Der Stau vor der ukrainischen Grenze ist auf polnischer Seite drei Kilometer lang. Kein Problem, denken wir, und stellen uns zuhinterst an. Die Autobahn ist leer, bis auf die lange Kolonne wartender Fahrzeuge. Gegenverkehr gibt es praktisch keinen. Links und rechts Kiefernwald. Während wir warten, beobachten wir Störche, die auf einem Baum aufgeregt mit den Schnäbeln klappern.
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Die Autoschlange steht still, nichts bewegt sich. Ein paar Leute grillieren auf dem Pannenstreifen, andere haben im geöffneten Kofferraum improvisierte Bars mit Softdrinks und härteren Spirituosen eingerichtet. Wir steigen aus und unterhalten uns mit den anderen Fahrern. «Wie lange dauert das noch?», fragt der ungeduldige Schweizer einen Ukrainer in einem roten T-Shirt. «Normalerweise drei bis vier.» «Stunden?», bohren wir weiter. «Nein, drei bis vier Tage natürlich.»
Die lange Wartezeit ist nicht nur auf die kafkaeske Bürokratie der ukrainischen Zollbehörden zurückzuführen, sondern auch auf die vielen zurückkehrenden Flüchtlinge. Uno-Organisationen schätzen, dass seit der russischen Invasion am 24. Februar rund 5.3 Millionen Ukrainer ihr Land verlassen haben, die meisten von ihnen Richtung Polen.
Seit Wochen übersteigt nun aber die Zahl der Rückkehrer jene der neuen Flüchtlinge bei weitem. Schätzungsweise mehr als zwei Millionen Ukrainer sind inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, vor allem in den Westen und Norden. Seit sich der Krieg aus der Region der Hauptstadt Kiew in den Süden und Osten verlagert hat, ist der Rest des Landes weitgehend sicher – abgesehen von seltenen russischen Attacken mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern.
Was in der Autokolonne auffällt: Fast alle Fahrzeuge verfügen über Kontrollschilder für den Export, die meisten davon polnische, gefolgt von deutschen. Rückkehrer kaufen also häufig günstige Gebrauchtwagen im Westen und fahren damit in ihre Heimat. Da wäre zum Beispiel der ukrainische Grossvater, der in Portugal arbeitet, und nun mit seiner Tochter und ihrem neun Monate alten Enkelkind in einem Kleinwagen an der Grenze wartet. Das Baby schläft friedlich auf einem Kindersitz auf der Rückbank.
Für die Erwachsenen ist es etwas anstrengender. Eine gute Seele hat schwarze Müllsäcke an die Leitplanken gehängt, und eine mobile Toilettenkabine steht einsam auf dem Pannenstreifen – für die Insassen von schätzungsweise 600 Autos. In einem fahrenden Kiosk verkauft ein Pole Snacks und gekühlte Getränke.
Weil die Leute immer wieder den Motor laufen lassen, um die Autobatterie aufzuladen, ist einigen Fahrzeugen das Benzin ausgegangen. Wenn sich die Kolonne bei seltenen Gelegenheiten doch um einige Meter bewegt, müssen die Ukrainer diese Autos schieben. Ein Smart ohne Treibstoff wird vom Vorderfahrzeug am Abschleppseil mitgezogen.
Die Lösung für die Schweizer sind magnetische Presseaufkleber, die wir auf der Kühlerhaube und auf den Türen des Autos anbringen – in Kombination mit einer Menge ukrainischer Papiere, die wir vor der Reise in mühsamer Kleinarbeit organisiert haben. Zu Fuss suche ich die polnischen Beamten am Ende der Autoschlange auf. Nach Durchsicht der Dokumente erlauben sie uns, die Kolonne zu überholen und zur Abfertigung auf die ukrainische Seite zu fahren. Der Ukrainer im roten T-Shirt freut sich für uns und wünscht eine gute Reise. Die anderen Fahrer warten stoisch, bis sie endlich an der Reihe sind.
Am ukrainischen Zoll erhalten wir einen Zettel, auf denen ein Bewaffneter die Nummer unseres Autokennzeichens einträgt. Damit durchlaufen wir Kontrollen und ein absurdes Bürokratietheater, an dessen Ende nach etwa zwei Stunden drei Stempel auf dem Zettel prangen. Ein Polizist in schwarzer Uniform wirft einen Blick auf den alles entscheidenden, dritten Stempel in Rot und sagt:
Inzwischen ist es Nacht geworden. Auf der ukrainischen Landstrasse stauen sich in der Gegenrichtung Lastwagen auf einer Länge von rund acht Kilometern. Weil die russische Marine die ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer blockiert, bleibt nur noch der Landweg für den Export von ukrainischem Getreide.
Das Land ist einer der grössten Weizenexporteure, schätzungsweise 400 Millionen Menschen ernähren sich weltweit von ukrainischem Korn. Wenn das Getreide tatsächlich auf der Strasse ausgeführt werden soll, müssen sich die Behörden aber eine dringende Fitnesskur in Sachen Bürokratie auferlegen – damit der Export schneller läuft.
Das Gleiche gilt für den Fall, dass das Land tatsächlich einmal vom EU-Kandidaten zum EU-Mitglied aufsteigen möchte. Der ukrainische Staat, in dem zum Teil noch der Geist der alten sowjetischen Bürokratie weht, ist dermassen dysfunktional, dass ein EU-Beitritt so gesehen noch in weiter Ferne scheint. Danil, ein junger Freiwilliger in der Territorialverteidigung, den wir in Lwiw, dem ehemaligen Lemberg, kurz vor Beginn der Ausgangssperre um 23 Uhr treffen, meint dazu nur:
Diese leicht anarchistische Haltung ist weit verbreitet und dafür mitverantwortlich, dass trotz sowjetischer Beamtenmentalität genügend Importe ins Land gelangen, um den Krieg fortzusetzen.
Kurz vor Kiew sehen wir zerstörte Fabriken, Häuser mit klaffenden Einschusslöchern und vom russischen Artilleriebeschuss zerfetzte Kiefernwälder. Spuren von Panzerketten und Granattrichter auf dem Asphalt haben die Ukrainer inzwischen entfernt. Es ist ungefähr der südlichste Punkt, den die russischen Panzer bei ihrem Umzingelungsversuch im März bei Kiew erreicht haben.
Im Innern der Hauptstadt sind dagegen kaum Schäden zu erkennen. Obwohl Wochenende ist, herrscht dichter Verkehr auf den Strassen. Schätzungsweise eine Million Bewohner sind inzwischen nach Kiew zurückgekehrt. Man sieht Autos mit Kennzeichen aus halb Europa, darunter auch ein türkisfarbener Porsche Taycan mit Obwaldner Nummernschild.
Während unten am Fluss Dnjepr noch gebadet wird, füllen sich die Bars und Restaurants am Samstagabend schon etwas früher als in Friedenszeiten – wegen der Ausgangssperre. Strassenmusikanten spielen auf, und es werden naive Kunst sowie T-Shirts mit allerlei nationalistischen Motiven verkauft.
Nationalismus steht nun hoch im Kurs. Oksana, eine aus dem lettischen Riga stammende ukrainische Uniprofessorin, erzählt, dass der Gebrauch des Ukrainischen stark zugenommen habe. Selbst ursprünglich Russischstämmige wie sie würden nun im Alltag immer mehr auf Ukrainisch ausweichen. Wenn Moskau gehofft hatte, dass seine Invasion russisch- und ukrainischsprachige Ukrainer auseinander dividieren würde, so hat der Krieg genau das Gegenteil davon bewirkt.
Auffallend ist in den Ausgehvierteln der Hauptstadt die grosse Zahl junger Männer in Zivil, die mit ihren Partnerinnen oder in Gruppen durch die Strassen streifen. Offenbar haben die Behörden erst einen kleinen Teil der wehrfähigen Männer mobilisiert.
Ins Auge springt auch die vergleichsweise geringe Anzahl Strassensperren. Wo es früher in jedem Dorf mindestens einen Kontrollpunkt gab, wo zum Teil mit Schrotflinten und Jagdgewehren bewaffnete Zivilisten Fahrzeuge unter die Lupe nahmen, sieht man inzwischen nur noch wenige, dafür professionelle Strassensperren. An diesen Posten ist der Anteil weiblicher Bewaffneter viel höher als früher. Man hat also männliche Soldaten für den Frontdienst frei gemacht und an den Strassensperren durch Frauen ersetzt.
Am frühen Sonntagmorgen schlagen im Schewtschenko-Distrikt von Kiew Raketen oder Marschflugkörper in Wohnblöcken ein. Eine Person wird laut vorläufigen Regierungsangaben getötet und zwei weitere verwundet.
Es ist eine kleine Erinnerung an die Partygänger vom letzten Abend: Der Krieg ist noch nicht zu Ende. (aargauerzeitung.ch)