International
Russland

90'000 Esten singen gegen Putin auf dem grössten Gesangsfestival der Welt

Blumenkränze im Haar, Fahnen und Trachten: Und alles hat daran Freude.
Blau-schwarz-weiss, wo man nur hinschaut: Nationalistischer Horror für sowjetisch denkende Menschen, Ausdruck eines gesunden Nationalbewusstseins für die Esten.Bild: Kaupo Kikkas

90'000 Esten singen gegen Putin – zu Besuch auf dem grössten Gesangsfestival der Welt

Offiziell gibt sich das grösste Gesangsfest der Welt im estnischen Tallinn unpolitisch. Aber die Kraft der Lieder ist ungestüm, hat das Land 1990 von den Sowjets befreit.
11.07.2025, 09:2811.07.2025, 09:28
Christian Berzins
Mehr «International»

Jetzt heisst es improvisieren. Nach dem eiskalten Wind vom Freitag ist fürs Wochenende Regen angesagt. Die langen Pyjamahosen kommen unter die Manchesterhose, zwei Socken über die Füsse, über das Langarm-Unterhemd der Rollkragenpullover und die Winterstrickjacke – darüber die Regenjacke. Und kaum das Gesangsfestgelände in Sichtweite, ist es Zeit für die Pelerine, dieses Nichts zwischen Plastiksack und Kleidungsstück, das Schwitzen macht. Trotzdem vermisse ich bald Handschuhe. Bin ich ein Warmduscher?

«20 Minuten» hätte bei einem solchen Regen Tage im Voraus vor einer Sintflut gewarnt. Doch ich mache den Esten, suche stoisch einen Platz auf der riesigen Wiese. 58’000 Karten wurden verkauft – und es scheint, als wären schon alle Käufer und Käuferinnen hier. Die Habitués in meiner Gruppe steuern eine Grünfläche an, wo vielleicht das eine Baby Platz hätte, aber all die anderen?!

«Schweizer, beiss dir auf die Zunge!», sage ich mir. Längst dröhnen prächtige Fanfaren ins Rund, alsbald packende Blasmusik: 54 Formationen sitzen da in der Bühnenmuschel, rund 1547 Musiker. Pipifax gegen all das, was alsbald kommen wird.

Wir sind am Tanz- und Gesangsfest in Tallinn, dem grössten Sängerfest der Welt: Bald stehen da nämlich 32’000 Sänger und Sängerinnen. Gestemmt wird diese Klanglawine von einem Völklein, das gerade mal eine Million Menschen zählt. Ein Zehntel von ihnen ist beim sogenannt «grossen Konzert» am Sonntag im Stadion. Die meisten sind schon seit Donnerstag in der Stadt.

Können 10’926 Menschen miteinander tanzen? Das Tanzfest in Tallinn zeigt, wie es geht.
Können 10’926 Menschen miteinander tanzen? Das Tanzfest in Tallinn zeigt, wie es geht.Bild: Kaupo Kikkas

10’000 von ihnen geniessen am Freitagabend in einem Sportstadion den grossen Tanzabend. 10’926 Volkstänzerinnen und Volkstänzer aus dem ganzen Land vereinen sich am Ende zur wohl grössten Tanzcompagnie der Welt, ihre Trachten sind ein Schauspiel, prägen zwei Tage lang das Bild in der Innenstadt.

Drei Jahre Arbeit stecken hinter den 36 Tänzen

Drei Jahre Arbeit stecken hinter den 36 Tänzen, die eine fast drei Stunden lange Show füllen. Tönt langatmig, ist aber hochspektakulär, auch wenn man die einstudierten Details als Uneingeweihter nicht erkennen kann. Doch Überwältigung zu erklären, ist sowieso etwas für Gefühlssparer. In einem ausgeklügelten Pyramidensystem wurden vorab die Choreografien – getanzte Bäume, Winde, Flüsse, Fässer oder andere Formen und Gefühle – entwickelt.

Diese Ideen der Chefchoreografin gelangen dann dank Assistenten und Gehilfen in die hintersten Winkel von Estland, dorthin, wo nur noch Birken stehen. Doch auch da wird gesungen und getanzt, überall gibt es Chöre und Volkstanzgruppen, begeisterte Lehrer und Lehrerinnen, die für den Auftritt am Gesangsfest während Monaten ihre Freizeit opfern.

Doch zurück kommt das Glück. Am Samstag nehmen all diese Tausenden und Abertausenden von Sängern und Tänzerinnen an einem Umzug teil, bei dem sie in ihren Trachten selbst bei schönem Wetter erst stundenlang herumstehen müssten, dann ganz einfach durch die Strassen gingen. Nun machen sie es bei strömendem Regen – und sind glücklich. Das ist der Moment, wo der Chor von Türi, Tartu oder Valga sich aus der Nähe präsentieren kann. Wer weiss, vielleicht steht da ja ein Klassenkamerad aus der Schulzeit auf dem Trottoir und lässt sie alle hochleben.

Die Speisung der 46'000.
Die Speisung der 46'000.Bild: Kaupo Kikkas

Trotz Sturzbächen vom Himmel das am Strassenrand winkende Enkelkind auf eine Extratour im Umzug mitnehmen? Sicher! Am Abend dann gemeinsam ins grosse Rund zum Konzert? Klar! Dazwischen gibt es eine Stärkung. Ab 16 Uhr werden 46’000 Portionen Suppen an die Teilnehmenden ausgegeben, der freiwillige Frauen-Zivilschutz übt hier für den Ernstfall.

Wer in diesen Tagen und Monaten dieses Wort hört, zuckt unweigerlich zusammen. Dauernd hört die Welt von diesem Ernstfall, die russische Bedrohung ist enorm: Cyberangriffe und eine Schattenflotte draussen im Meer. Und so erschaudern die jungen Esten denn wohl selbst, wenn sie aus 32’000 Kehlen Liedtexte wie «Das Land meiner Väter, das Land, das ich liebe» hören, stimmen leise zitternd ein.

58’000 Menschen schauen und hören in Tallinn zu, wie 32’000 andere singen und tanzen.
58’000 Menschen schauen und hören in Tallinn zu, wie 32’000 andere singen und tanzen.Bild: Kaupo Kikkas

Wer am Sonntag nicht im Rund sitzt oder steht, schaut zu Hause die Liveübertragung. «Die Esten sind nicht besonders religiös, das Gesangsfest ist ihre Religion», sagte die künstlerische Leiterin Heli Jürgenson am Morgen im Gespräch. Ich lächelte und dachte «red’ du nur». Nach siebeneinhalb Stunden Konzert weiss ich, was sie meinte. Jetzt mit Tränen in den Augen. Heli Jürgenson ist an diesen zwei Tagen die wichtigste Frau im Staat, sagte schmunzelnd, dass sie selbst für das Wetter verantwortlich sei.

Die Dirigentin und künstlerische Leiterin des Gesangsfestes Heli Jürgenson war am Wochenende die wichtigste Frau im Staat. Ihr kam die Ehre zuteil, das Schlusslied zu dirigieren.
Die Dirigentin und künstlerische Leiterin des Gesangsfestes Heli Jürgenson war am Wochenende die wichtigste Frau im Staat. Ihr kam die Ehre zuteil, das Schlusslied zu dirigieren.Bild: Kaupo Kikkas

Und siehe da, sie hat auch Glück. Als sich nach den ersten vier Stunden um 18 Uhr der Himmel einen Spalt breit öffnet, können die Kleider etwas trocknen. Nun strömen immer noch mehr Leute ins Rund, schöner und trauriger werden die Lieder, kaum verhallt der letzte Ton, werden Tausende blau-schwarz-weisse Fahnen geschwenkt. Sie sind nicht wie bei den Spielen der Schweizer Nationalmannschaft vom Sponsor verteilt, jeder hat seine gekauft.

Im Liedgut bewahrten die Menschen das Esten-Sein

Wer darin einen übersteigerten Nationalismus sieht, irrt. Von 1945 bis 1990 war das Baltikum von den Sowjets besetzt. Im Liedgut bewahrte man das Esten-Sein. Und so waren die Gesangsfeste in der Sowjetzeit doppelt politisch. Zuerst mussten Lieder, die Lenin, Stalin und andere Schlächter feiern, gesungen werden.

Dann, wenn der offizielle Teil vorbei war, wurden die heimlichen estnische Hymnen gesungen. Die Nationalhymne allerdings war verboten, nicht aber «Das Land meiner Väter, das Land, das ich liebe» – ein Lied, das eine entscheidende Rolle in der Revolution spielte.

Mit den Flaggen war es ähnlich. Als 1988 beim Studentengesangsfest in Vilnius die Litauer plötzlich die eigene, alte Trikolore schwenkten, nähten die Esten und Letten über Nacht die ihrigen: Die Sowjets glotzten dumm, merkten, dass sich da etwas anbahnte. Das, was Wladimir Putin 2005 die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts nannte: der gesegnete Untergang der Sowjetunion.

Blumenkränze im Haar, Fahnen und Trachten: Und alles hat daran Freude.
Blumenkränze im Haar, Fahnen und Trachten: Und alles hat daran Freude.Bild: Kaupo Kikkas

Ab 1991 bildeten die Esten zum zweiten Mal seit 1918 einen eigenen Staat – und feiern diese Freiheit am Tanz- und Gesangsfest ausgelassen. «Iseomea» hiess das Thema allerdings bescheiden: Verwandtschaft. Die Offiziellen geben sich alle Mühe, zu betonen, dass dieser Anlass kein politischer sei. Heli Jürgenson, die künstlerische Leiterin, meint: «Die singende Revolution, das war Politik. Aber das aktuelle Gesangsfest nicht: Wir sind eine singende Nation.»

Eine andere Sicht auf das Geschehen hat die 23-jährige estnische Studentin Beatrice. Auch sie sagt zwar, dass sie sich erst singend so richtig als Estin fühlt, dann aber folgt das Entscheidende. «Das ist jetzt so wichtig wie noch nie.» Sie führt die Rede über das Zusammengehörigkeitsgefühl weiter aus und kommt auf die Solidarität mit der Ukraine zu sprechen.

Gefragt, ob man hier folglich nicht nur für etwas, sondern auch gegen etwas singe, zögert sie erst, fragt dann leise: «Gegen Russland?» Und als ich nicke, antwortet sie deutlich: «Ja klar, wir singen gegen Russland, gegen Putin.»

Auf der Bühne ist der Jüngste sechs Jahre, der älteste 94 Jahre alt – und alle trotzen dem Regen.
Auf der Bühne ist der Jüngste sechs Jahre, der älteste 94 Jahre alt – und alle trotzen dem Regen.Bild: Kaupo Kikkas

Und wenn dann die vereinten 990 Chöre und Orchester, die fast 40’000 Menschen, von der Bühne her «Eesti Eesti Eesti!» zu skandieren beginnen, bald ein Teil des Publikums einstimmt, ist das ein Aufschrei, der bis Moskau gehört sein soll.

Via Grossleinwände wird die kleinste Emotion von der Bühne in die hintersten Reihen gebracht. Allerdings braucht man sie gar nicht, denn in seinem eigenen Rasenabschnitt, seinem Flecklein Estland, geschieht so viel, dass man kaum mit Schauen, Lächeln und Staunen nachkommt.

Auf der Bühne ist der Jüngste sechs Jahre, der Älteste 94 Jahre alt. Im Publikum geht’s von 0 bis gegen 100. Da wird eine Windel gewechselt, da vor Wiedersehensfreude getanzt und die blau-weissen Blumenhaarkränze bestaunt, dort liegen Teenies schlafend und gamend auf der Decke, da kuscheln sich zwei Menschen innig aneinander.

Der kollektive Rausch treibt schöne Blüten

Doch nach der dritten Sintflut-Viertelstunde ist’s um 17 Uhr vorbei mit «gemütlich»: Alle Matten, Decken, Kissen sind so nass, dass nur noch Stehen und Hoffen auf das Regenende hilft. Bei den Essensständen draussen bilden sich riesige Schlammseen, Teenies waten lachend in Socken durch die Sümpfe. Der kollektive Rausch treibt schöne Blüten – ohne Alkohol, ist der doch vom Gelände genauso verbannt wie Regenschirme.

Der kollektive Rausch treibt schöne Blüten.
Der kollektive Rausch treibt schöne Blüten.Bild: Kaupo Kikkas

Nach 7 Stunden und 30 Minuten ist die Zugabe gesungen. Neeme Järvi, weltberühmte estnische Dirigentenlegende und Vater von Paavo, dem Zürcher Tonhalle-Orchester-Chefdirigenten, kam die Ehre zuteil, sie zu dirigieren. Doch als der 88-Jährige im Jubel der 90’000 einen Blumenstrauss zu den Chormassen werfen will, fällt er hin, und das Rund erstarrt vor Schrecken, wie vom Bannstrahl getroffen. Doch der 88-Jährige rafft sich wieder auf und scherzt sogleich ins Mikrofon, ob er die Zugabe wiederholen solle. Wird er nicht, aber in drei Jahren gibt es das nächste grosse Gesangsfest, die Vorbereitungen laufen seit 6 Monaten. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die besten Bilder der Fussball-EM 2025 in der Schweiz
1 / 88
Die besten Bilder der Fussball-EM 2025 in der Schweiz

Riesige Freude bei Spanien nach dem Führungstreffer.

quelle: keystone / til buergy
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Die Schneeleoparden-Jungen vom Zoo Zürich gehen auf ihre erste Entdeckungstour
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
8 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
8
US-Justizministerium: Epstein-Komplizin Ghislaine Maxwell nennt 100 Namen
Ghislaine Maxwell hat gegenüber dem US-Justizministerium ausgepackt – über rund 100 Personen aus dem Umfeld des verstorbenen Sexualstraftäters Jeffrey Epstein. Ihre Aussagen könnten neue Bewegung in einen Fall bringen.
Ghislaine Maxwell hat bei einem Verhör durch das US-Justizministerium Angaben zu rund 100 Personen gemacht, die in Verbindung mit dem verstorbenen Sexualstraftäter Jeffrey Epstein stehen. Das erklärte ihr Anwalt David Oscar Markus am Freitag vor Journalisten in Tallahassee, Florida.
Zur Story