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Warum die Friedensnobelpreisträgerin ihren Kollegen ignorierte

Warum eine der drei Friedensnobelpreisträger nicht mit ihrem Kollegen sprechen wollte

12.12.2022, 18:0313.12.2022, 13:58
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Eine Ukrainerin, ein Russe und die Frau eines inhaftierten Belarussen stehen gemeinsam auf einer Bühne und nehmen einen der renommiertesten Preise überhaupt entgegen. Sie wechseln dabei weder einen Blick noch ein Wort miteinander. Die Fronten scheinen sogar auf dieser Bühne – weit weg von der militärischen Front in der Ukraine – verhärtet zu sein. Und das, obwohl die drei für das Gleiche ausgezeichnet werden: ihren Kampf für Menschenrechte in ehemaligen Sowjetstaaten.

Die Szene spielte sich am vergangenen Samstagabend bei der Zeremonie zur Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo ab. Bei den Preisträgern handelt es sich um Oleksandra Matwijtschuk, Jan Rachinsky und Ales Bjaljazki (vertreten von seiner Frau Natalja Pintschuk).

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Von links: Natalja Pintschuk, Jan Rachinsky und Oleksandra Matwijtschuk, 10. Dezember 2022 Bild: keystone

Das ist ihr Engagement:

Oleksandra Matwijtschuk / Center for Civil Liberties

Oleksandra Matviychuk of Ukraine's Center for Civil Liberties, left, speaks during the Nobel Peace Prize ceremony at Oslo City Hall, Norway, Saturday, Dec. 10, 2022. The winners of this year?s No ...
Oleksandra Matwijtschuk während ihrer Nobelpreisrede, 10. Dezember 2022.Bild: keystone

Matwijtschuk kam 1983 in der heutigen Ukraine zur Welt und erlebte als Kind den Zusammenbruch der Sowjetunion hautnah mit. Dies sei auch der Grund gewesen, weshalb sie sich für ein Jurastudium mit Schwerpunkt Menschenrechten entschieden habe, erzählte sie der Friedrich Naumann Foundation for Freedom.

Die Menschenrechtlerin koordiniert das Projekt «Euromaidan SOS», um bei der Suche nach Demonstranten zu helfen, die seit den Euromaidan-Protesten 2013/14 vermisst werden.

Zudem war Matwijtschuk Initiatorin der globalen Initiative «Save Oleg Sentsov», die sich für die Freilassung von illegal inhaftierten Menschen in Russland und den besetzten Gebieten auf der Krim einsetzte. Synchron wurden Kundgebungen in mehr als 30 Ländern durchgeführt und Forderungen an die jeweiligen eigenen Regierungen gestellt, «nicht an irgendeinen abstrakten Putin», wie sie im Interview mit dem Spiegel sagt. Die Initiative war damit erfolgreich: Sentsow und 34 weitere Häftlinge wurden freigelassen.

FILE - In this Tuesday, Aug. 25, 2015 file photo, Oleg Sentsov gestures as the verdict is delivered, as he stands behind bars at a court in Rostov-on-Don, Russia. The lawyer for a hunger-striking Ukra ...
Oleg Sentsow vor Gericht. Sentsow ist ein ukrainischer Filmregisseur. Er wurde 2014 auf der Krim verhaftet und wegen des Verdachts der Planung terroristischer Handlungen nach Moskau überstellt. Die Festnahme und die Inhaftierung galten als politisch motiviert und konstruiert. 2019 wurde er freigelassen. Sentsow schloss sich nach der russischen Invasion den territorialen Verteidigungseinheiten der ukrainischen Streitkräfte an.
Bild: AP/AP

Seit 2007 leitet sie die Menschenrechtsorganisation Centre for Civil Liberties (CCL), die mit dem Ziel gegründet wurde, die Werte der Menschenrechte, Demokratie und Solidarität in der Ukraine zu fördern.

In ihrer Rede im Rahmen der Nobelpreiszeremonie spricht sie über den Krieg in der Ukraine:

«Dieser Krieg dauert seit acht Jahren, neun Monaten und 21 Tagen an. Für Millionen von Menschen sind Worte wie Beschuss, Folter, Deportation, Filtrationslager alltäglich geworden.»

Das CCL dokumentiert seit Ausbruch des Krieges Menschenrechtsverletzungen vor Ort. Dabei kommt es immer wieder zu Spannungen, die durch unterschiedliche Interessen hervorgerufen werden, wie Matwijtschuk der Zeit sagte. So habe man gerade bei Butscha gesehen, dass das öffentliche Interesse an den Gräueltaten, die die Russen in dem Dorf nahe Kiew begangen hatten, berechtigterweise riesig gewesen sei. Allerdings hätten Journalisten und freiwillige Helfer den «Tatort Butscha» betreten und so wichtige Beweise zerstört, was für die Arbeit des CCL verheerend gewesen sei.

FILE - Bodies lie scattered in a mass grave in Bucha, Ukraine, on the outskirts of Kyiv, Sunday, April 3, 2022. Ukrainian troops found brutalized bodies and widespread destruction in the suburbs of Ky ...
Massengräber in Butscha im April 2022.Bild: keystone
Soldiers walk amid destroyed Russian tanks in Bucha, on the outskirts of Kyiv, Ukraine, Sunday, April 3, 2022. (AP Photo/Rodrigo Abd)
Butscha am 3. April 2022.Bild: keystone

Matwijtschuk spricht mit der «Zeit» auch darüber, wie schwierig der Zugang zu Zeugen teilweise sei: «Manche Menschen sind sehr aggressiv, andere sind wie versteinert. Wieder andere trauern», sagt sie. Um die Aufklärung eines Kriegsverbrechens kümmert sich die CCL aber nicht: Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt. Denn bei diesen Opfern würde man ohne entsprechende Schulung bloss weiteren Schaden anrichten.

Matwijtschuk, die mit den abscheulichsten Gräueltaten der russischen Besatzer konfrontiert ist, warnt trotz aller Kriegsschrecken davor, Russland politisch entgegenzukommen, einfach nur, um den Krieg rasch zu beenden:

«Das Leben der Menschen darf kein ‹politischer Kompromiss› sein.»

Würde nämlich das angegriffene Land die Waffen niederlegen, dann käme dies einer Besatzung gleich, meint sie. Und sie lobt ihre Landsleute vor der versammelten Nobelpreisgemeinschaft und bittet die Welt um Solidarität mit der Ukraine:

«Die demokratische Welt hat sich daran gewöhnt, Diktaturen entgegenzukommen. Und deshalb ist die Bereitschaft des ukrainischen Volkes zum Widerstand gegen den russischen Imperialismus so wichtig.»

Die 39-Jährige hat sich während der Nobelpreisfeierlichkeiten geweigert, gemeinsame Interviews mit Jan Rachinsky zu geben. Denn es sollten jetzt ukrainische Stimmen gehört werden und Rachinsky sei nun mal Russe, so ihre Begründung.

Jan Rachinsky / Memorial

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Jan Rachinsky während seiner Nobelpreisrede, 10. Dezember 2022.Bild: keystone

Jan Rachinsky ist der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Memorial, die in Russland 2014 zum «ausländischen Agenten» erklärt und in der Folge formell aufgelöst wurde. Doch die Aktivisten arbeiten weiter.

Memorial entstand ursprünglich Ende der 1980er Jahre, um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Stalin zu dokumentieren und den überlebenden Opfern und ihren Familien zu helfen.

Seit dem Ende der Sowjetunion setzt sich Memorial zudem für politisch Verfolgte und für demokratische Werte in Russland ein. Im Laufe der Zeit entstanden Forschungs- und Bildungsprojekte, ein Archiv und eine Online-Datenbank sowie Gedenkstätten.

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Traten trotz Differenzen gemeinsam auf den Balkon des Grand Hotel in Oslo, um zu winken. Bild: keystone

Im Memorial-Menschenrechtszentrum werden Informationen zur Menschenrechtslage in Russland aufbereitet. Immer wieder bestritt die russische Regierung Untersuchungsergebnisse von Memorial, doch international geniessen sie breite Anerkennung.

Rachinsky sagte am Samstag über den Krieg in der Ukraine:

«Wir haben vergangene und gegenwärtige Verbrechen dokumentiert. Und wir haben versucht zu verhindern, dass Geschichte vergessen und Rechtsbewusstsein zerstört wird. Wir haben viel erreicht. Doch wir konnten die Katastrophe vom 24. Februar nicht verhindern.»

Im Vorfeld der Preisverleihung gab Rachinsky der BBC ein Interview, in dem er erzählte, dass er von den russischen Behörden aufgefordert worden sei, den Nobelpreis abzulehnen, da die drei Preisträger «nicht zusammenpassen». Rachinsky hingegen sah die Entscheidung, den Preis an Preisträger in drei verschiedenen Ländern zu vergeben, als Beweis dafür, «dass die Zivilgesellschaft nicht durch nationale Grenzen geteilt ist». Doch er attestiert in seiner Rede:

«Die ungeheure Last, die auf unseren Schultern liegt, wurde nicht leichter, sondern schwerer durch den Friedensnobelpreis.»

Matwijtschuk zollt Memorial und Rachinsky übrigens durchaus Respekt. Der BBC gegenüber betont sie, dass die Organisation den Ukrainern jahrelang geholfen habe und dies immer noch tue.

Ales Bjaljazki / Viasna

FILE- Ales Bialiatski, the jailed leader of Vesna, the most prominent human rights group in Belarus, stands in a cage during a court session in Minsk, Belarus, Thursday, Nov. 24, 2011. On Friday, Oct. ...
Ales Bjaljazki während Gerichtsverhandlungen – hinter Gittern, November 2011. Bild: keystone

Ales Bjaljazki wird von der ARD als «Überzeugungstäter» bezeichnet. Auf jeden Fall ist er so überzeugt von seinem Kampf für Menschenrechte, dass er zurzeit in seiner Heimat Belarus im Gefängnis sitzt – nicht zum ersten Mal. Seine Frau, Natalja Pintschuk, nahm darum den Nobelpreis anstelle ihres Mannes entgegen und sagte während ihrer Rede:

«Derzeit sind in Belarus Tausende Menschen aus politischen Gründen in Haft. Doch nichts kann das Verlangen der Menschen nach Freiheit aufhalten.»

1996 gründete Bjaljazki die Organisation Wjasna, um Menschenrechtsverletzungen unter dem Regime von Alexander Lukaschenko zu dokumentieren und politische Gefangene zu unterstützen sowie ihnen eine Stimme zu geben. 2003 wurde Wjasna vom obersten belarussischen Gericht aufgelöst – was Bjaljazki und sein Team aber nicht daran hinderte, weiterzumachen.

FILE - Belarusian President Alexander Lukashenko gestures while speaking to journalists at the Osipovichi training ground during the Union Courage-2022 Russia-Belarus military drills near Osipovichi , ...
Duldet keine Kritik von Menschenrechtlern: Alexander Lukaschenko. Bild: keystone

Lukaschenko liess die Büroräumlichkeiten von Wjasna und die Wohnung Bjaljazkis durchsuchen und ihn 2011 wegen angeblicher Steuerhinterziehung zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilen. 2021 wurde er erneut festgenommen und inhaftiert. Und die Verfolgung geht weiter: Gegen mehrere andere Wjasna-Aktivisten wurden kürzlich politisch motivierte Anklagen erhoben.

Doch davon lässt sich Bjaljazki scheinbar nicht beeindrucken. Er beteuerte bereits mehrfach aus dem Gefängnis heraus, dass sein Kampf weitergehe – egal ob hinter Gittern oder in Freiheit.

Und auch Oleksandra Matwijtschuk sagt, dass sie weitermachen werde. Denn:

«Meine ganze Erfahrung im Kampf für Menschenrechte zeigt, dass Menschen viel mehr Einfluss haben, als sie denken. All unsere Errungenschaften sind ihnen zu verdanken.»
Oleksandra Matwijtschuk
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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
Ukrainische Soldaten begraben kurz nach Weihnachten 2023 ihren Kameraden Vasyl Boichuk im Dorf Iltsi.
quelle: keystone / evgeniy maloletka
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18 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Steibocktschingg
12.12.2022 19:12registriert Januar 2018
Ok, und warum wollte sie nun nicht mit den anderen sprechen? Bin ich blöd oder steht das nicht im Artikel?
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HugiHans
12.12.2022 19:40registriert Juli 2018
Zitat Matwijtschuk: „Denn es sollten jetzt ukrainischen Stimmen gehört werden und Rachinsky sei nun mal Russe, so ihre Begründung.“

Sorry, eine Person mit solch undifferenzierter Aussage ist diesem Preis nicht würdig. Sie diskreditiert Rachinsky Anstrengungen und schmeisst alle Bewohner eines Vielvölkerstaates in einen Topf. Frieden (Erhalt friedlicher Beziehungen oder deren Erreichung nach Konflikt) beruhen immer auf gegeseitigem Austausch, und nicht auf Verweigerung!
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Sam Regarde
12.12.2022 19:25registriert September 2019
Es ist einfach nur traurig und deprimierend zu sehen, welches Leid hier an die Oeffentlichkeit getragen wird. Menschen ertragen Situationen, denen wir uns kaum stellen könnten und beweisen Mut, der ihnen das Leben kosten könnte. Ich erbiete ihnen meine Hochachtung und hoffe, ihr Schicksal ist nicht definitif.
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