Eine Ukrainerin, ein Russe und die Frau eines inhaftierten Belarussen stehen gemeinsam auf einer Bühne und nehmen einen der renommiertesten Preise überhaupt entgegen. Sie wechseln dabei weder einen Blick noch ein Wort miteinander. Die Fronten scheinen sogar auf dieser Bühne – weit weg von der militärischen Front in der Ukraine – verhärtet zu sein. Und das, obwohl die drei für das Gleiche ausgezeichnet werden: ihren Kampf für Menschenrechte in ehemaligen Sowjetstaaten.
Die Szene spielte sich am vergangenen Samstagabend bei der Zeremonie zur Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo ab. Bei den Preisträgern handelt es sich um Oleksandra Matwijtschuk, Jan Rachinsky und Ales Bjaljazki (vertreten von seiner Frau Natalja Pintschuk).
Das ist ihr Engagement:
Matwijtschuk kam 1983 in der heutigen Ukraine zur Welt und erlebte als Kind den Zusammenbruch der Sowjetunion hautnah mit. Dies sei auch der Grund gewesen, weshalb sie sich für ein Jurastudium mit Schwerpunkt Menschenrechten entschieden habe, erzählte sie der Friedrich Naumann Foundation for Freedom.
Die Menschenrechtlerin koordiniert das Projekt «Euromaidan SOS», um bei der Suche nach Demonstranten zu helfen, die seit den Euromaidan-Protesten 2013/14 vermisst werden.
Zudem war Matwijtschuk Initiatorin der globalen Initiative «Save Oleg Sentsov», die sich für die Freilassung von illegal inhaftierten Menschen in Russland und den besetzten Gebieten auf der Krim einsetzte. Synchron wurden Kundgebungen in mehr als 30 Ländern durchgeführt und Forderungen an die jeweiligen eigenen Regierungen gestellt, «nicht an irgendeinen abstrakten Putin», wie sie im Interview mit dem Spiegel sagt. Die Initiative war damit erfolgreich: Sentsow und 34 weitere Häftlinge wurden freigelassen.
Seit 2007 leitet sie die Menschenrechtsorganisation Centre for Civil Liberties (CCL), die mit dem Ziel gegründet wurde, die Werte der Menschenrechte, Demokratie und Solidarität in der Ukraine zu fördern.
In ihrer Rede im Rahmen der Nobelpreiszeremonie spricht sie über den Krieg in der Ukraine:
Das CCL dokumentiert seit Ausbruch des Krieges Menschenrechtsverletzungen vor Ort. Dabei kommt es immer wieder zu Spannungen, die durch unterschiedliche Interessen hervorgerufen werden, wie Matwijtschuk der Zeit sagte. So habe man gerade bei Butscha gesehen, dass das öffentliche Interesse an den Gräueltaten, die die Russen in dem Dorf nahe Kiew begangen hatten, berechtigterweise riesig gewesen sei. Allerdings hätten Journalisten und freiwillige Helfer den «Tatort Butscha» betreten und so wichtige Beweise zerstört, was für die Arbeit des CCL verheerend gewesen sei.
Matwijtschuk spricht mit der «Zeit» auch darüber, wie schwierig der Zugang zu Zeugen teilweise sei: «Manche Menschen sind sehr aggressiv, andere sind wie versteinert. Wieder andere trauern», sagt sie. Um die Aufklärung eines Kriegsverbrechens kümmert sich die CCL aber nicht: Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt. Denn bei diesen Opfern würde man ohne entsprechende Schulung bloss weiteren Schaden anrichten.
Matwijtschuk, die mit den abscheulichsten Gräueltaten der russischen Besatzer konfrontiert ist, warnt trotz aller Kriegsschrecken davor, Russland politisch entgegenzukommen, einfach nur, um den Krieg rasch zu beenden:
Würde nämlich das angegriffene Land die Waffen niederlegen, dann käme dies einer Besatzung gleich, meint sie. Und sie lobt ihre Landsleute vor der versammelten Nobelpreisgemeinschaft und bittet die Welt um Solidarität mit der Ukraine:
Die 39-Jährige hat sich während der Nobelpreisfeierlichkeiten geweigert, gemeinsame Interviews mit Jan Rachinsky zu geben. Denn es sollten jetzt ukrainische Stimmen gehört werden und Rachinsky sei nun mal Russe, so ihre Begründung.
Jan Rachinsky ist der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Memorial, die in Russland 2014 zum «ausländischen Agenten» erklärt und in der Folge formell aufgelöst wurde. Doch die Aktivisten arbeiten weiter.
Memorial entstand ursprünglich Ende der 1980er Jahre, um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Stalin zu dokumentieren und den überlebenden Opfern und ihren Familien zu helfen.
Seit dem Ende der Sowjetunion setzt sich Memorial zudem für politisch Verfolgte und für demokratische Werte in Russland ein. Im Laufe der Zeit entstanden Forschungs- und Bildungsprojekte, ein Archiv und eine Online-Datenbank sowie Gedenkstätten.
Im Memorial-Menschenrechtszentrum werden Informationen zur Menschenrechtslage in Russland aufbereitet. Immer wieder bestritt die russische Regierung Untersuchungsergebnisse von Memorial, doch international geniessen sie breite Anerkennung.
Rachinsky sagte am Samstag über den Krieg in der Ukraine:
Im Vorfeld der Preisverleihung gab Rachinsky der BBC ein Interview, in dem er erzählte, dass er von den russischen Behörden aufgefordert worden sei, den Nobelpreis abzulehnen, da die drei Preisträger «nicht zusammenpassen». Rachinsky hingegen sah die Entscheidung, den Preis an Preisträger in drei verschiedenen Ländern zu vergeben, als Beweis dafür, «dass die Zivilgesellschaft nicht durch nationale Grenzen geteilt ist». Doch er attestiert in seiner Rede:
Matwijtschuk zollt Memorial und Rachinsky übrigens durchaus Respekt. Der BBC gegenüber betont sie, dass die Organisation den Ukrainern jahrelang geholfen habe und dies immer noch tue.
Ales Bjaljazki wird von der ARD als «Überzeugungstäter» bezeichnet. Auf jeden Fall ist er so überzeugt von seinem Kampf für Menschenrechte, dass er zurzeit in seiner Heimat Belarus im Gefängnis sitzt – nicht zum ersten Mal. Seine Frau, Natalja Pintschuk, nahm darum den Nobelpreis anstelle ihres Mannes entgegen und sagte während ihrer Rede:
1996 gründete Bjaljazki die Organisation Wjasna, um Menschenrechtsverletzungen unter dem Regime von Alexander Lukaschenko zu dokumentieren und politische Gefangene zu unterstützen sowie ihnen eine Stimme zu geben. 2003 wurde Wjasna vom obersten belarussischen Gericht aufgelöst – was Bjaljazki und sein Team aber nicht daran hinderte, weiterzumachen.
Lukaschenko liess die Büroräumlichkeiten von Wjasna und die Wohnung Bjaljazkis durchsuchen und ihn 2011 wegen angeblicher Steuerhinterziehung zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilen. 2021 wurde er erneut festgenommen und inhaftiert. Und die Verfolgung geht weiter: Gegen mehrere andere Wjasna-Aktivisten wurden kürzlich politisch motivierte Anklagen erhoben.
Doch davon lässt sich Bjaljazki scheinbar nicht beeindrucken. Er beteuerte bereits mehrfach aus dem Gefängnis heraus, dass sein Kampf weitergehe – egal ob hinter Gittern oder in Freiheit.
Und auch Oleksandra Matwijtschuk sagt, dass sie weitermachen werde. Denn:
Sorry, eine Person mit solch undifferenzierter Aussage ist diesem Preis nicht würdig. Sie diskreditiert Rachinsky Anstrengungen und schmeisst alle Bewohner eines Vielvölkerstaates in einen Topf. Frieden (Erhalt friedlicher Beziehungen oder deren Erreichung nach Konflikt) beruhen immer auf gegeseitigem Austausch, und nicht auf Verweigerung!