Er gilt als der hochrangigste Abtrünnige der Regierung des russischen Präsidenten Wladimir Putin: Nun liegt der Ex-Politiker und Ökonom Anatoli Tschubais offenbar mit Symptomen einer schweren Nervenkrankheit in einem italienischen Krankenhaus. Wie italienische Medien übereinstimmend berichten, wird der 67-Jährige «nach plötzlicher Krankheit» auf einer Intensivstation in Olbia auf der Insel Sardinien behandelt. Tschubais hatte im März 2022 seine Ämter niedergelegt und Russland bis auf Weiteres verlassen.
Zuerst hatte die russisch-israelische TV-Moderatorin und ehemalige Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak in ihrem Telegram-Kanal über den Fall berichtet. Demnach sei Tschubais auf eine Intensivstation eingeliefert worden, nachdem sich ein Taubheitsgefühl in Armen und Beinen ausgebreitet hatte. Im Krankenhaus sei dann das Guillain-Barré-Syndrom diagnostiziert worden – eine neurologische Erkrankung, die in schweren Fällen zu Lähmungen führen kann.
Sobtschak beruft sich auf Avdotya Smirnova, die Ehefrau des 67-Jährigen. Das Patientenzimmer Tschubais' wurde dem russischen Nachrichtenkanal «Ostorozhno News» zufolge, für den auch Sobtschak arbeitet, von Personal in Schutzanzügen untersucht – Polizisten befragten die Anwesenden im Krankenhaus.
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Die plötzliche Erkrankung mit neurologischen Symptomen weckt Erinnerungen an Fälle, in denen russische Oppositionelle Opfer von mutmasslichen Giftanschlägen durch russische Geheimdienste wurden. Der prominenteste Fall war Alexei Nawalny, der 2020 monatelang in einem deutschen Krankenhaus behandelt wurde und derzeit in einem russischen Straflager inhaftiert ist.
Bei Nawalny wurde das Nervengift Nowitschok nachgewiesen – ein Wirkstoff, der auch 2018 im Körper des der Spionage beschuldigten Sergej Skripal und seiner Tochter gefunden wurde. Trotz schwer belastender Indizien streitet der Kreml bis heute jegliche Beteiligung an den Giftanschlägen ab.
Den Verdacht, dass Tschubais vergiftet worden sein könnte, äusserte auch die Pressesprecherin Nawalnys, Kira Jarmysch. Sie schreibt auf Twitter: «Das ist der Ruf des Kremls: Niemand zweifelt wirklich daran, dass Tschubais vergiftet wurde.» Belege für die Vorwürfe gibt es dagegen nicht.
Das Guillan-Barré Syndrom tritt meist in Verbindung mit einer vorangegangenen Infektion auf – auch als mögliche, seltene Nebenwirkung von Impfungen mit einzelnen Corona-Impfstoffen ist es derzeit Gegenstand der Berichterstattung. Ein Giftstoff als Auslöser ist bislang nicht bekannt.
Nach einem Bericht der «Financial Times» geht auch Tschubais selbst nicht von einer Vergiftung aus. «Das sind sehr verständliche Verdächtigungen. Aber er denkt nicht so», erklärte demnach eine enge Kontaktperson Tschubais am Montag. Demnach bestehe auch keine Lebensgefahr mehr für den 67-Jährigen.
Tschubais Rücktritt als Berater des Präsidenten in Angelegenheiten des Klimas und nachhaltiger Energien hatte international für Aufsehen gesorgt. Beobachter werteten den Schritt als Protest gegen die russische Invasion in der Ukraine. Tschubais selbst hat sich zu seinen Motiven nie öffentlich geäussert – neben seiner Tätigkeit im Kreml legte er Ende März aber auch weitere Vorstandsposten in der Energiewirtschaft nieder. Zudem soll er sich seit dem Rückzug nicht mehr in Russland aufgehalten haben.
Internationale Medien berichteten, dass sich Tschubais nach seiner Ausreise zuerst in Istanbul aufgehalten haben soll. Anfang Juni soll er in einem Supermarkt auf Zypern fotografiert worden sein. Über seinen derzeitigen Aufenthaltsort war bislang nichts bekannt.
In der Zwischenzeit hat sich auch der Kreml zu den Berichten geäussert. «Natürlich ist das eine traurige Nachricht, wir wünschen ihm eine schnelle Genesung, aber gleichzeitig sind wir nicht im Besitz von Details», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow laut der russischen Nachrichtenagentur «Tass» am Montag auf einer Pressekonferenz. Russische Staatsmedien berichten unter Berufung auf den Bruder des Erkrankten, dass sich der Zustand Tschubais bereits verbessert habe.
Der Ökonom und Politiker war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion massgeblich an Privatisierungen von russischem Staatsvermögen beteiligt – er gilt als einflussreicher Reformer bei der Transformation der russischen Ökonomie nach dem Vorbild westlicher Marktwirtschaften. Putin und Tschubais verbindet eine lange gemeinsame Karriere im russischen Staatsapparat. Unter Präsident Boris Jelzin soll Tschubais Mitte der 1990er-Jahre sogar Putin seinen ersten Posten im Kreml verschafft haben, bevor dieser in das Amt des Geheimdienstchefs und später zum Präsidenten aufstieg.
Nach Ämtern beim staatlichen Energiekonzern EES Rossii und dem staatlichen Unternehmen Rosnano, wurde Tschubais im Dezember 2020 zum Berater im Kreml berufen, um Präsident Putin in Fragen der nachhaltigen Wirtschaft zu beraten. Zu Amtszeiten galt er als eine der wenigen liberalen Stimmen im Team Putins, der enge Kontakte zu westlichen Partnern aufrechterhielt. (t-online,jro )