Am 29. Mai 1982 war der «BBC»-Korrespondent Robert Fox Zeuge der Schlacht von Goose Green – einem abgelegenen Ort auf den Falklandinseln, um die sich Grossbritannien und Argentinien damals stritten. Sein Bericht über die Geschehnisse wurde 24 Stunden später im Radio gesendet – zehn Stunden hatte es gedauert, bis er ein Satellitentelefon an Bord eines Kriegsschiffes erreichte, weitere acht Stunden, bis sein Text in London entschlüsselt worden war.
Seit Fox' Zeiten haben das Internet, Satelliten oder Handys die Art und Weise dramatisch verändert, wie wir über Kriege informiert werden. Im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gelangen News scheinbar in Echtzeit zu uns. Es sind riesige Datenmengen, die öffentlich zugänglich umherschwirren.
Und auch zur Aufarbeitung von Kriegsgeschehnissen – zum Beispiel den Angriff auf das Wohnhaus in Dnipro – haben Analysen von Open-Source-Informationen (OSINT) beigetragen. Doch OSINT-Analysen bergen auch Gefahren:
Am 14. Januar 2023 beschoss die russische Armee ein ziviles, neunstöckiges Wohnhaus in der ukrainischen Stadt Dnipro mit einer Rakete aus einem Flugzeug – fernab von der Front. Das Haus krachte in sich zusammen und unter den Trümmern des Gebäudes wurden die Bewohner begraben. Der Anschlag forderte so viele Zivilistenleben, wie nur wenige anderen Angriffe in diesem Krieg: Mindestens 30 Menschen sind tot.
Die Bilder der Überlebenden sind verstörend. Besonders ein Foto kursiert in den sozialen und den ukrainischen Medien: Eine junge Frau kauert mitten in den Ruinen des Gebäudes, sie umklammert ein Stofftier und eine goldene Weihnachtsgirlande. Ihr Name ist Anastasia Schwets. Die Eltern und ihr Haustier habe sie beim Angriff verloren, ihr Partner sei an der Front gestorben, schreibt sie auf ihrem von der «New York Times» verifizierten Instagram-Kanal.
Die Verantwortlichen dieses mutmasslichen Kriegsverbrechens in Dnipro zu finden, haben sich die Organisation Molfar zusammen mit Journalisten der ukrainischen Plattform «Наші гроші. Львів» auf die Fahne geschrieben – und zwar mithilfe von Open-Source-Informationen aus Googlemaps, dem russischen Facebook-Klon VKontakte oder Bilder in den sozialen Medien.
In nicht einmal zwei Tagen wurden so 44 Namen identifiziert. Molfar vermeldet am Sonntag:
Molfar ist eine globale OSINT-Gemeinschaft, die auf 35 Analysten und mehr als 200 Freiwilligen zählen kann. Diese werten öffentlich zugängliche Daten über den Ukraine-Krieg aus, um Kriegsverbrechen zu identifizieren, russische Propaganda zu widerlegen, oder «ein vollständiges Archiv der Ereignisse des Krieges» zu erstellen.
Die 44 identifizierten Russen gehören alle dem 52. Garderegiment an. Veröffentlicht wurde neben den Namen und der Laufbahn der Militärs auch die Namen von Familienmitgliedern (teilweise inklusive deren Telefonnummern oder E-Mail-Adressen), Passnummern, Autonummern oder anderer öffentlich abrufbarer Informationen.
Die Analysten stellen ausserdem fest, dass das Regiment auch für den Anschlag auf ein Einkaufszentrum in der Stadt Krementschuk, im Juni 2022 verantwortlich war. Damals sind mindestens 30 Menschen ums Leben gekommen, darunter ein Kind.
In einer weiterführenden OSINT-Recherche wollte Molfar beweisen, dass die russische Armee in voller Absicht ein ziviles Gebäude getroffen habe. Das wird anhand der Geo-Daten des Gebäudes und bekannte Angaben über den Rakenttyp gemacht.
Molfar hat für die genauen Geo-Daten des zerstörten Wohnhauses vor allem auf Fotos gesetzt. In mehreren Threads von Geo-Tackern auf Twitter werden diese Daten des eingestürzten Hauses bestätigt — teilweise anhand eines Videos und der Schallwelle des darin zu hörenden Einschlags.
Das zerstörte Haus hat die Geo-Daten: 48.418922, 35.068075
Beim Beschuss des Wohnhauses wurden Angaben der ukrainischen Regierung zufolge K-22-Raketen aus sowjetischer Produktion eingesetzt. Molfar bestätigt das anhand von OSINT-Analysen.
Die maximale Reichweite dieses Raketentyps ist 600 Kilometer, allerdings können beim Einsatz aus grosser Entfernungen Abweichungen vom Ziel von mehreren hundert Metern auftreten. Da die Entfernung vom Einschlagsort zur nächsten Energieinfrastrukturanlage 3,7 Kilometer beträgt – beziehungsweise sich im Umkreis des zerstörten Wohnhauses nur weitere Wohnsiedlungen befinden – habe die russische Armee bewusst auf ein ziviles Objekt geschossen, schlussfolgert Molfar.
OSINT-Analysen begleiten den Krieg seit Tag 1.
Sie dienten sogar dazu, den Ausbruch des Kriegs vorauszusagen: Anhand kommerzieller Satellitenbilder und Videomaterials von russischen Konvois auf TikTok haben Journalisten und Forschern die Behauptungen untermauert, dass Russland eine Invasion vorbereitete.
Am 24. Februar um 3:15 Uhr twitterte Jeffrey Lewis vom Middlebury Institute in Kalifornien «Jemand ist in Bewegung». Weniger als drei Stunden später eröffnete Wladimir Putin seinen Krieg. Lewis erfasste so die ersten Truppenbewegungen des Krieges mithilfe von Daten, die via Google zu finden sind.
Seit da verfolgen professionelle und amateurhafte Analysten den Krieg und die Frontlinie in Echtzeit, indem Bilder geografisch verortet werden. Satellitenbilder spielen so bei der Verfolgung des Krieges immer noch eine Rolle – es geht um Truppenbewegungen, Kriegsverbrechen und das Ausmass von Schäden.
Doch während Satellitenbilder gut geeignet sind, um die Aufstellung russischer Bataillone auf offenen Feldern zu dokumentieren, ist es schwieriger, mit ihnen kleinere Kompanien zu verfolgen. Dafür verwenden OSINT-Analysten eher Telegram oder das russische Facebook VKontakte.
Alleine in den ersten 80 Tagen des Ukraine-Kriegs wurden insgesamt zehn Jahre an Filmmaterial direkt von der Front auf Telegram geteilt, so Matthew Ford von der Swedish Defence University gegenüber «The Economist». Und das, obwohl es seit 2019 ein Gesetz in Russland gibt, das es Soldaten verbietet, sensible Fotos oder Videos hochzuladen.
Für Armeen, die ihre operative Sicherheit aufrechterhalten wollen, ist diese Fülle an Daten ein Alptraum.
Und die geteilten Daten können tödliche Folgen haben, sagt Rob Lee vom King's College London gegenüber dem «Economist»: Im Dezember postete ein Russe auf VKontakte Fotos von Streitkräften in einem Country Club in der Provinz Cherson. Sein Beitrag enthielt einen Geo-Tag. Kurz darauf schlugen ukrainische Raketen genau dort ein. Der Russe überlebte den Raketeneinschlag – und postete ein weiteres Video. So konnte die Ukraine eine Einschätzung der Schäden vor Ort vornehmen. Und das ist nur eines von mehreren ähnlichen Ereignissen.
Doch OSINT-Analysen sind nicht nur ein Segen für die Ukraine und den Westen. Experten warnen, dass sie dazu verführen würden, den Krieg verzerrt zu sehen: «Das Filmmaterial, das wir von diesem Krieg sehen, ist nicht unbedingt repräsentativ dafür, wie er geführt wird», sagt Lee.
Open-Source-Informationen seien eine unendliche Zahl an Puzzleteilen, die nicht das ganze Bild zeigten. Das Ergebnis ist, dass man mit den losen Puzzleteilen «eine fast unendliche Anzahl von Bildern» kreieren könne und sich so selber täuschen könne. Das schaffe «zersplitterte Realitäten».
Ein weiteres Problem ist, dass Daten manipuliert werden können. So haben die ukrainischen Streitkräfte schnell begriffen, dass das bewusste Verbreiten von Filmmaterial eine effektive Strategie ist, um über den Krieg zu berichten – dabei wurden teilweise Datum, Zeit und Ortsstempel weggelassen, «um den Eindruck zu erwecken, dass es sich bei ältere Angriffe auch nach Monaten noch um eine grosse Sache handle», erklärte Justin Bronk vom Royal United Services Institute kürzlich in einem Podcast.
OSINT-Analysen sind und bleiben wohl ein Teil des Narratives, wie über den Ukraine-Krieg erzählt wird.
Vielen Dank an all die freiwilligen Helfer, die ihre Zeit für eine gerechtere Welt investieren!
Wladimir Wladimirowitsch Putin
07.10.1952
Kreml-Palast
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