Es war eine Nachricht, die dieses Wochenende die gesamte Berichterstattung über Russland prägte: «Nawalny ist tot.» Bei einem Spaziergang soll der bekannteste russische Oppositionelle, Alexej Nawalny, zusammengebrochen und dann verstorben sein, wie die russischen Gefängnisbehörden am Freitagmittag verkündeten.
Dieser Begründung glaubt niemand. Weder die Nawalny-Anhängerinnen und -Anhänger, die seither in Russland demonstrieren und reihenweise festgenommen werden, noch die westlichen Medien, in denen Expertinnen und Experten zahlreiche Theorien über die tatsächliche Todesursache aufstellen. Alle mit dem gleichen Schluss: Der russische Staat ist verantwortlich für diesen Tod.
Einer dieser Experten ist Ulrich Schmid, Professor für Osteuropastudien an der Universität St.Gallen. Er sagt, welche weiteren aktuellen Ereignisse in und um Russland mit Nawalnys Tod zusammenhängen – und ein Zeichen für Russlands Streben nach einer Grossmachtposition sind.
Der Zeitpunkt von Nawalnys Tod kommt gemäss Schmid zu einem interessanten Zeitpunkt. Direkt vor der russischen Präsidentschaftswahl. Diese findet vom 15. bis 17. März statt. «Diese Präsidentschaftswahl ist natürlich eine Farce», sagt Schmid.
Eigentlich wäre Wladimir Putins Zeit abgelaufen. Doch 2020 liess er die russische Verfassung umschreiben, damit er zwei weitere Amtszeiten – also noch bis 2036 – Präsident bleiben kann.
Schmids Prognose: «Putin wird mit mindestens 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt und es wird eine Wahlbeteiligung von mindestens 70 Prozent geben.» 2018 kommunizierten die russischen Wahlbehörden Putins Sieg mit 77 Prozent der Stimmen und 68 Prozent Wahlbeteiligung. An den diesjährigen Wahlen wolle Putin noch bessere Ergebnisse. Dies, um zu demonstrieren, dass die Bevölkerung hinter ihm – und vor allem hinter dem Angriffskrieg gegen die Ukraine – stehe.
Putin braucht eine Legitimierung für den Ukrainekrieg. Denn gemäss Schmid ist ein Ende noch lange nicht in Sicht. Womöglich sogar jahrzehntelang nicht. Kriegstechnisch hätten die Ukraine und Russland grundsätzlich mit denselben Problemen zu kämpfen: zu wenige Soldaten, zu wenig Waffen, zu wenig Munition. Wobei Russland seit letztem Jahr kräftige Unterstützung mit Munitionslieferungen aus Nordkorea erhält. «Ein Sieg der einen oder anderen Seite ist trotzdem nicht absehbar», sagt Schmid.
Russland braucht mehr Soldaten. Und wird, so vermutet Schmid, wohl nach den Wahlen eine zweite Teilmobilmachung anordnen. 2022 ging nach der ersten Teilmobilmachung eine Schockwelle durch die russische Gesellschaft. Ein überwältigender Wahlsieg für Putin soll allfällige Proteststimmungen bereits im Keim ersticken.
Warum ist in einem Land, in dem Wahlergebnisse frei erfunden werden können, die Wahlbeteiligung so wichtig? «Das Ziel der Präsidentschaftswahl besteht nicht in der Auswahl eines Kandidaten, sondern im Nachweis, dass Russland geschlossen hinter Putin steht», sagt Schmid. Putin wolle darum eine hohe Wahlbeteiligung. Diese werde zwar gefälscht. Doch bei dieser Fälschung müsse der Kreml vorsichtig vorgehen. «Sonst könnten Zustände wie 2020 in Belarus drohen.»
Nachdem Präsident Alexander Lukaschenko seine Wiederwahl mit utopischen 80 Prozent der Stimmen verkündet hatte, gingen tausende Belarussinnen und Belarussen gegen die Wahlfälschung auf die Strasse. Lukaschenko reagierte mit voller Brutalität, schlug die Proteste nieder, liess Demonstrierende inhaftieren, verschwinden – nur so bekam er die Situation wieder in den Griff.
Eine Instabilität im Inland wie in Belarus, das ist das Letzte, was Putin wolle, so Schmid. Er habe kein Wahlprogramm. Sein einziges Wahlversprechen an sein Volk sei: Mit ihm bleibe der Status Quo bestehen. «Und dieses Versprechen einer Normalität konnte er bisher halten – trotz Ukrainekrieg.»
Ein Mann, der zumindest entfernt wie ein Oppositioneller daherkam, wäre Boris Nadeschdin gewesen. Er sprach sich offen gegen Putins Krieg gegen die Ukraine aus – und erhielt erstaunlich viel Zuspruch in der Bevölkerung. Allerdings zu viel.
«Aus fadenscheinigen Gründen schloss die russische Wahlbehörde Nadeschdin von der Wahl aus», sagt Schmid. Damit wolle der Kreml einmal mehr an dieser Präsidentschaftswahl demonstrieren: Putin ist alternativlos.
Und mit Nawalnys Tod ist nun auch für alle klar: Putin wird selbst in Zukunft alternativlos bleiben. «Mit Nawalnys Tod hat der Kreml oppositionellen Russinnen und Russen den letzten Hoffnungsschimmer genommen.»
Schmid zieht Parallelen zur russischen Vergangenheit. 1918 hätten die Bolschewiken unter Lenin die gesamte Zarenfamilie umgebracht, um den Anhängern der Monarchie die letzte Hoffnung auf die Wiederherstellung des alten Regimes zu nehmen. Ohne Zar und ohne Thronfolger kann es kein Zarenreich mehr geben. Und ohne Nawalny gibt es niemanden mehr mit einem so überzeugenden Charisma, der Russland in einen demokratischen Rechtsstaat verwandeln könnte.
Die Nachricht von Nawanlys Tod kommt in derselben Woche, in der auch noch eine andere Schlagzeile kursiert: Russland arbeitet an nuklearen Weltraumwaffen. Das schreiben US-amerikanische Medien, die sich auf Informationen des US-Geheimdienstes beziehen. Ziel dieser Nuklearwaffen sollen Satelliten sein, auf die wir alle tagtäglich angewiesen sind: für GPS, Internet, Kommunikation – kurzum alles, woran die digitale Welt angehängt ist. Eine Anti-Satelliten-Nuklearwaffe könnte die Welt ins Chaos stürzen.
Moskau hat das Gerücht bereits dementiert. Doch auch Ulrich Schmid sagt:
Ihr Einsatz käme einem Mega-Hackerangriff gleich, weil so viele Technologien, ganze Wirtschaftszweige und Länder von den Satelliten abhängen.
«Russland baut diese Waffen aber nicht primär, um sie tatsächlich einzusetzen», sagt Schmid. «Sondern vor allem, um seine Macht zu demonstrieren.» Putin wolle eine Atommacht in vier Dimensionen sein: auf dem Land, im Wasser, in der Luft – und nun eben auch im All.
Damit baut Russland seine Drohkulisse auf allen Ebenen aus: im Inland mit Nawalnys Tod, in den Nachbarländern mit dem Ukrainekrieg, weltweit mit Weltraumwaffen. Alles mit einem Ziel: «Putin will militärisch durchsetzen, dass Russland bei jeder Entscheidung von globalem Interesse mitreden kann. Dass er dabei die Grundwerte der Vereinten Nationen – nämlich die Sicherung des Weltfriedens – zerstört, ist ihm egal.»
Hier im Dorfladen verkaufen sie die WW. Ich habe gefragt, wie viel sie pro Woche verkaufen. Der Verkäufer meinte, in zwei Jahren hätte er nicht ein einziges Magazin verkauft.