Vor dem mit Spannung erwarteten Aussenministertreffen der Ukraine und Russlands haben beide Seiten auch in der Nacht zum Donnerstag im Kriegsgebiet gekämpft. Die Ukraine meldete Beschuss auf mehrere Grossstädte, in der Hauptstadt Kiew gab es Fliegeralarm. Für den Vormittag war ein neuer Versuch geplant, bei einer regionalen Feuerpause Menschen aus umkämpften Städten zu retten.
Es ruht Hoffnung auf dem ersten hochrangigen Gespräch beider Seiten seit Kriegsbeginn. Dazu traf der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba im türkischen Antalya ein, wo er am Donnerstagmorgen mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow Optionen für ein Ende des Kriegs ausloten will. Vermitteln will der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, will in Antalya die Sicherheit der ukrainischen Atomanlagen thematisieren. Die IAEA hat nach eigenen Angaben nicht nur den Kontakt zum Kraftwerk Tschernobyl verloren, sondern auch zum grössten ukrainischen Meiler Saporischschja.
Als Bedingung für eine Einstellung der Gefechte fordert Russland, dass sich die Ukraine in ihrer Verfassung für neutral erklärt. Zudem müsse Kiew die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisch sowie die Separatistengebiete als unabhängig anerkennen. Die Ukraine lehnt das bisher zwar in weiten Teilen ab. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat aber eine gewisse Kompromissbereitschaft angedeutet. Auch aus Moskau waren nicht mehr alle Maximalforderungen zu hören.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier befürchtet trotzdem, dass die Brutalität der russischen Kriegsführung noch zunehmen wird. «Es gibt leider keine Anzeichen dafür, dass dieser Krieg in kurzer Zeit zuende geht», sagte er in einem Podcast-Gespräch der Bertelsmann Stiftung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will die Lage am Abend mit den Staats- und Regierungschefs der anderen 26 EU-Staaten bei einem Gipfel in Versailles bei Paris beraten.
Für Donnerstag ist nach ukrainischen Angaben ein neuer Versuch vorgesehen, über drei Fluchtkorridore Menschen aus Städten der Region Sumy im Nordosten in die weiter westlich liegende Stadt Poltawa zu retten. Für diese Fluchtrouten sei ab 08.00 Uhr Schweizer Zeit eine Waffenruhe geplant, teilte die Gebietsverwaltung von Sumy mit. Aus der umzingelten Grossstadt Sumy selbst waren am Dienstag und Mittwoch fast 50'000 Menschen herausgekommen.
Vor allem um die Evakuierung der südukrainischen Hafenstadt Mariupol wird seit Tagen gerungen. Dort löste am Mittwoch ein Angriff auf eine Geburtsklinik Entsetzen aus – auch bei UN-Generalsekretär Antonio Guterres, der ein Ende der «sinnlosen Gewalt» forderte.
Das Kriegsgeschehen in der Nacht zu Donnerstag blieb unübersichtlich, zumal Angaben der Kriegsparteien auch nicht unabhängig zu überprüfen sind. Ukrainische Behörden meldeten, russische Flugzeuge hätten die Umgebung von Sumy bombardiert, darunter Wohngebiete und eine Gasleitung. Die ukrainische Armee sprach von versuchten russischen Vorstössen auf die Hauptstadt Kiew und die südukrainische Stadt Mykolajiw sowie Angriffen auf die Region um die Millionenstadt Charkiw im Osten. Doch habe man die russische Offensive gebremst.
Die Ukraine hofft auf weitere Waffenlieferungen aus Deutschland, wie Botschafter Andrij Melnyk der Deutschen Presse-Agentur sagte. Die deutsche Rüstungsindustrie habe dem Verteidigungsministerium Vorschläge gemacht. «Wir erwarten eine positive Entscheidung.»
Trotz einer klaren Absage der US-Regierung gibt Melnyk auch die Hoffnung auf Lieferung von MiG-29-Kampfjets nicht auf. Polen hatte sich bereit erklärt, die Flugzeuge den USA zur Verfügung zu stellen mit dem Ziel, sie letztlich in die Ukraine zu bringen. Die US-Regierung lehnt dies ab, weil sie eine Verwicklung der Nato in den Krieg befürchtet. Das US-Repräsentantenhaus billigte aber in der Nacht 13,6 Milliarden Dollar (12,3 Milliarden Euro) Hilfen für die Ukraine.
Die deutsche Bundesregierung wehrt sich auch gegen einen Stopp russischer Energielieferungen – weil Deutschland schlicht zu abhängig davon sei. Doch auch da erhöhte der ukrainische Botschafter Melnyk den Druck. Angesichts der hohen Zahl der Kriegsopfer unter der Zivilbevölkerung sei das Nein zu einem Importstopp «moralisch nicht tragbar», sagte er der dpa.
Die EU hat Russland zwar mit massiven Sanktionen belegt. Die Kappung der milliardenschweren Lieferungen von Gas, Erdöl und Kohle gehört aber nicht dazu. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck meinte jedoch in der ARD: «Wir können auch einmal frieren für die Freiheit.»
Schon ohne den Importstopp muss sich Deutschland als Folge des Kriegs auf eine Rezession und noch stärker steigende Preise einstellen – das sagte der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, der «Neuen Osnabrücker Zeitung». Angesichts der Belastungen solle Deutschland die Schuldenbremse für die nächsten Jahre aufgeben.
Das russisch-ukrainische Aussenministertreffen in Antalya soll am Vormittag beginnen, der informelle EU-Gipfel in Versailles am Nachmittag (17.30 Uhr). Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) reist zu Gesprächen über Flüchtlinge nach Polen. . (saw/sda/dpa)