Seit der erfolgreichen Gegenoffensive der Ukrainer ist Präsident Putin in den vergangenen Tagen vermehrt unter Kritik geraten – in seinem eigenen Land. Am Montag wurde von Abgeordneten gar eine Petition zur Absetzung Putins eingereicht. Auch wenn dies für russische Verhältnisse einer ungewöhnlichen Entwicklung entspricht, stellt sie für Putin im Moment noch kein grösseres Risiko dar, meint die russische Politikanalystin Tatjana Stanowaja. Das grössere Problem sieht sie in einer möglichen Überreaktion Putins, wie sie gegenüber Reuters erklärt:
Dass es für den Kreml nun schwieriger wird, auf die häufiger geäusserte Kritik zu reagieren, zeigen Aussagen des Kreml-Sprechers Dimitri Peskow.
Dieser wiegelte an einer Pressekonferenz am Dienstag ab: Kritik an der Militärführung sei ein Beispiel für Pluralismus. Insgesamt stünden die Russen hinter Präsident Putin. Diese Aussage relativiert er aber direkt wieder, indem er eine nicht so subtile Drohung ausspricht:
Dass sie sich mit ihrer Beteiligung an der Petition in gefährliches Fahrwasser begibt, ist auch Ksenia Thorstrom bewusst. Die Abgeordnete aus St. Petersburg hatte am Montag auf Twitter eine Petition veröffentlicht, die den Rücktritt Putins fordert – mittlerweile ist diese von 66 Gemeindevertretern aus St. Petersburg, Moskau und mehreren anderen Regionen unterzeichnet worden.
Thorstrom weiss um das Risiko von öffentlich geäusserter Kritik. In ihrem Aufruf zur Unterzeichnung der Petition schreibt sie deshalb nur vage, dass Putins Handlungen der «Zukunft Russlands schaden» würde. Genauer ausführen kann sie das nicht, wie sie in einem Interview mit dem Onlinemedium «DW Russland» erklärt:
Gegenüber Reuters erklärt sie, dass es ihr trotz Risiko am wichtigsten sei, Solidarität mit gleichgesinnten, unabhängigen Politikerinnen und Politikern innerhalb Russlands zu zeigen.
Denn dass gewählte Vertreter des Parlaments Kritik so offen äussern, ist selten. Umso mehr angesichts des von Thorstrom erwähnten Gesetzes, welches zu Beginn dieses Jahres eingeführt wurde: Bei «Diskreditierung der Streitkräfte» oder «Verbreitung absichtlich falscher Informationen» drohen den Russinnen und Russen lange Haftstrafen.
Die Konsequenzen dieses Gesetzes bekommt auch eine Gruppe von Abgeordneten aus St. Petersburg zu spüren. Vergangene Woche forderten sie die Anklage Putins wegen Hochverrats, nun muss sie sich vor Gericht verantworten. Nebst Bussen droht ihnen die Auflösung ihres Bezirksrates.
Am 7. September hatte der Abgeordnete Dmitri Paljuga auf Twitter den Beschluss des Stadtrates veröffentlicht. Darin hiess es:
⚡Совет МО Смольнинское принял решение обратиться к депутатам Госдумы с предложением выдвинуть обвинение в госизмене против президента Путина для отрешения его от должности
— Dmitry Palyuga (@dmitry_palyuga) September 7, 2022
Решение поддержало большинство присутствующих депутатов pic.twitter.com/WMg1areX52
Nun wurde Paljuga vom Gericht mit 47'000 Rubeln (750 Franken) gebüsst. Indem er die Absetzung Putins gefordert habe, habe er die Behörden «diskreditiert», so lautete das Urteil. Vier weitere Mitglieder des Smolninskoje Bezirksrates werden in den nächsten zwei Tagen vor Gericht erscheinen müssen.
Dasselbe Gericht hat zudem einige vergangene Ratssitzungen für ungültig erklärt, womit sie den Weg für die Auflösung des Rates geebnet haben.
Wie Paljuga vor seiner Anhörung gegenüber Reuters sagte, zielten die Appelle seiner Gruppe nicht nur auf liberale Russen, die Putin bereits kritisch gegenüberstehen. Vielmehr wollen sie auch regierungstreue Menschen erreichen, die angesichts des mangelnden Erfolgs der russischen Armee langsam zu zweifeln beginnen. Die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive der vergangenen Tage hat wesentliches dazu beigetragen, sagt Paljuga zu Reuters:
Dass er damit recht haben dürfte, zeigt die Drohung Peskows, der damit dem Trend der öffentlichen Kritik-Äusserung entgegenwirken möchte. (saw)
Dann wird mit dem Machtapparat abgerechnet.
Jetzt ist es erst ein Schneeball, der sich erst noch zur Lawine entwickeln muss.
Noch vor kurzem war aber schonöffentliche Kritik eigentlich undenkbar. Ich hoffe noch immer auf die Russen, die sich endlich erheben.