Zugwaggons voll mit gestapelten, weissen Leichensäcken. In den Leichensäcken: tote russische Soldaten, Gefallene des Ukraine-Kriegs.
Doch die Zugwaggons stehen nicht etwa in Russland, sondern harren in der Ukraine aus. Wie lange noch, weiss niemand.
Was passiert eigentlich mit gefallenen Soldaten im Krieg? Und wie sehen die Normen, Rechte und Pflichten von Kriegsparteien aus in Bezug auf tote Soldaten?
In Schutzanzüge gekleidete Ukrainer hieven Leichensäcke in Kühlwaggons – darin russische Soldaten, die in der Gegend um Kiew gefallen sind. Dies zeigen Reportagen des Nachrichtensenders Al-Jazeera und Videos der Nachrichtenagentur Reuters.
In a sign of the price Vladimir Putin may be paying for his invasion of Ukraine, servicemen near Kyiv have been loading hundreds of bodies of Russian soldiers into refrigerated rail cars to send them to their families https://t.co/uwHJxFFRoP pic.twitter.com/wHen94gcoC
— Reuters (@Reuters) May 14, 2022
Gezeigt wird unter anderem ein Abzeichen eines ranghohen, russischen Fallschirmspringers – sowie der Schmuck, den dieser in der Ukraine geplündert haben soll. Sein lebloser Körper liege in einem der vielen weissen Leichensäcke.
Der Leiter der zivil-militärischen Zusammenarbeit der Ukraine, Wolodymyr Lyamsin, erklärt gegenüber al-Jazeera:
Mehrere Kühlzüge seien in verschiedenen Regionen der Ukraine stationiert. Um die Leichen der russischen Soldaten aufzubewahren, sagt Lyamsin gegenüber Reuters.
In den weissen Leichensäcken, die in den ukrainischen Zügen gestapelt sind, lägen mehrere hunderte Leichen, sagt Lyamsin weiter. Genaue Zahlen, wie viele russische Soldaten in der Ukraine ihr Leben gelassen haben, gibt es aber keine: Die Ukraine spricht von 25'000 toten Russen, Russland spricht von 1300 Gefallenen in den eigenen Reihen.
Doch gibt es international anerkannte Regeln, wie die Ukraine und Russland mit diesen Leichen umzugehen haben?
Das Regelwerk für den Krieg ist in den vier Genfer Abkommen von 1949 niedergeschrieben – das Kernstück des humanitären Völkerrechts. Seither wurden die Genfer Abkommen mehrfach überarbeitet und mit Zusatzprotokollen ergänzt. Die Genfer Abkommen regeln, wie unbeteiligte oder kampfunfähige Personen im Kriegsfall geschützt werden müssen. Auch der Umgang mit toten Soldaten wird im Völkerrecht mehrfach erwähnt.
Bindend sind die Genfer Abkommen für alle Staaten, die die jeweiligen Abkommen und Zusatzprotokolle unterzeichnen. Als Kontrollorgan fungiert das Internationale Rote Kreuz (IKRK).
Die Ukraine und Russland haben dieses Genfer Abkommen beide in ihrem Gesetz ratifiziert. Russland allerdings unter Vorbehalten.
Grundsätzlich gilt im Völkerrecht, dass Konfliktparteien alle möglichen Massnahmen ergreifen müssen, um die Toten zu suchen und zu bergen, wie Erika Oman Chappuis vom IKRK auf Anfrage gegenüber watson sagt. Dabei sollen sie sorgfältig mit gefallenen Feinden umgehen.
Ein hastiges Verscharren in Massengräber ist nicht vorgesehen im Völkerrecht, denn Beerdigungen sollen einzeln vorgenommen werden – sofern die Umstände dies erlauben, wie im ersten Genfer Abkommen geschrieben steht. Einäscherungen sind nur im absoluten Notfall angedacht, zum Beispiel bei «zwingenden hygienischen Gründen».
Im Ersten Genfer Abkommen Kapitel II, Artikel 17 ist ebenfalls festgehalten, dass Kriegsparteien einen amtlichen Gräberdienst einzurichten haben. Dieser Gräberdienst ist zuständig für die Identifizierung der Leichen und muss eine Liste führen, mit den genauen Angaben über den Ort der Gräber und den darin bestatteten Menschen.
Das IKRK unterstützt die Ukraine im laufenden Krieg bei dieser Aufgabe: Im «Central Tracing Agency Bureau for the International Armed Conflict in Ukraine» (CTA) sammelt das IKRK Informationen über gefangene oder getötete Zivilisten und Militärs, wie Chappuis sagt. Diese Angaben würden dann an alle Konfliktparteien weitergegeben.
So könne man dazu beitragen, dass Menschen nicht einfach verschwinden würden. Und man könne Familien mit Informationen über das Schicksal und den Verbleib ihrer Angehörigen informieren, erklärt Chappuis.
Zudem habe das IKRK laut dem Dritten Genfer Vertrag eine «Inspektionsfunktion» bei der Registrierung von Kriegsgefangenen, betont Chappuis. Das IKRK könne dank eines Fragebogens Kriegsgefangene aufspüren, identifizieren und ihren Status überwachen. Somit könne man Kriegsgefangene vor gewaltsamem Verschwinden, Misshandlungen oder Hinrichtungen im Schnellverfahren schützen, meint Chappuis.
Kriegsparteien sind verpflichtet, sich über die Gefallenen auszutauschen, sobald die Umstände dies erlauben. Somit soll garantiert werden, dass alle Parteien Informationen über ihre Toten sowie die Kriegsgräber erhalten würden – und etwaige Exhumierungen und Überführungen der Gefallenen in die Wege geleitet werden können. Das IKRK unterstütze als neutraler Vermittler die Kriegsparteien auch bei diesem Prozess, wie Chappuis gegenüber watson bestätigt.
Gegenüber Reuters sagt Wolodymr Lyamsin über die toten Soldaten in den weissen Leichensäcken, die in ukrainischen Kühlwaggons gestapelt werden:
Doch ist die Ukraine wirklich verpflichtet, die gefallenen Russen zurückzugeben? Und muss Russland die Leichen auch annehmen? Chappuis klärt auf:
Die Verpflichtung der Kriegsparteien sei, sich redlich darum zu bemühen, dass die Leichen sowie deren persönliche Habe an die Angehörigen zurückgegeben werden – und das gilt für alle Konfliktparteien gleichermassen. Dabei könne sowohl die Konfliktpartei, der ein Verstorbener angehörte, den Antrag auf Rückgabe stellen, als auch dessen Familien.
Die Überführung der sterblichen Überreste der im Kampf getöteten Personen sei wichtig, damit die Gefallenen durch ihre Angehörigen in Würde betrauert werden könnten, sagte Martin Schüepp, IKRK-Regionaldirektor Eurasien, im Zusammenhang mit dem Konflikt in Berg-Karabach. Zudem sei das Recht der Familien auf die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen durch die internationalen Menschenrechtsnormen rechtlich geregelt, wie Chappuis ausführt. Und sie sagt:
Was mit den toten russischen Soldaten in den ukrainischen Kühlzügen in nächster Zukunft passiert, ist noch ungewiss. Doch das internationale Völkerrecht sieht vor, dass ihre Familien irgendwann in Ruhe um sie trauern dürfen. Irgendwann.
Das sind wohl auch Schauspieler, wie der Kreml immer wieder sagt.
Es ist einfach nur schlimm, wie Russland mit Landsleuten umgeht. Sei es lebendig oder tot. Ich glaube ihr Übername „Orks“ ist gut getroffen.