Seit bald einem Jahr kämpft der russische Präsident Wladimir Putin in der Ukraine. Was er sich wohl als kurzen militärischen Einsatz vorgestellt hat, entpuppt sich als zäher, teurer und verlustreicher Kampf. Das entgeht auch russischen Armee-Angehörigen nicht. Üblicherweise zieren sich diese aber, ihre Kritik öffentlich zu äussern. Zu gross ist die Angst vor Repressalien Putins.
Auch Anders Yevgeny Prigoschin, der Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, hielt sich während Jahren im Hintergrund. Nun aber tritt er immer öfter als ihr Anführer in Erscheinung, wo er militärische Erfolge in der Ukraine auf sein Tun zurückführt. Damit scheint er sich von der Zensur freigekauft zu haben, denn er wagt es regelmässig, Putins Regierung direkt zu kritisieren.
In Telegramgruppen, die mit der Wagner-Gruppe in Verbindung stehen, beantwortet Yevgeny Prigoschin immer wieder mal Fragen, die ihm gestellt werden.
So wollte am Dienstag jemand vom Wagner-Chef wissen, was er von den neusten Regelungen des russischen Verteidigungsministeriums halte. Demnach müssen sich die Soldaten nämlich den Bart abrasieren und auf ihre Tablets und Smartphones verzichten. Ob es in der Wagner-Gruppe auch ähnliche Einschränkungen gebe?
Prigoschin macht keinen Hehl daraus, dass er gar nichts von diesen neuen Regelungen hält. Soldaten an der Front wüschen sich zu 80 Prozent aus der Flasche, das Rasieren sei ein Luxus. Zudem trage ein grosser Teil seiner Gruppe aus religiösen Gründen einen Bart.
Was Tablets und Smartphones angehe, seien diese für die moderne Kriegsführung unverzichtbar. Sie lieferten genaue Geodaten, einschliesslich Höhenangaben und anderer «Geheimnisse des Geländes». Zudem könnten gewisse Spezialeinheiten ihre Daten nur dank dieser Geräte übermitteln. Selbstverständlich müssten die Kommunikationsmittel klug eingesetzt werden. Nur «Degenerierte» würden WhatsApp, Viber oder andere feindliche Mittel der Informationsübertragung nutzen.
Die Forderungen Generalleutnants Sobolev seien archaisch wie aus den 60er-Jahren und zeugten von Mangel an moderner militärischer Ausbildung. Das sei einer der Hauptgründe, warum die Qualität der Kämpfe leide, kritisiert Prigoschin ganz offen.
Dann kommt er erst so richtig in Fahrt:
Statt der Entwicklung militärischer Ausrüstung gebe es bloss Paraden, Shows, dummen Gehorsam und Kriecherei, wettert er weiter. Und:
Am Schluss schlägt er wieder versöhnlichere Töne an. Im Gegensatz zu den Soldaten an der Front habe er genügend Zeit, den Anweisungen des Generalleutnants zu folgen, und rasiere sich daher fast jeden Tag.
Prigoschin versuche mit seinen Aussagen das Vertrauen in das Verteidigungsministerium zu untergraben, vermutet das US-Institut für Kriegsstudien (ISW). Gleichzeitig versuche er, sich als Gesicht der russischen «Spezialoperation» in der Ukraine zu profilieren.
Auch am Mittwoch hielt er sich nicht mit Kritik zurück. Diesmal griff er damit direkt die Präsidialverwaltung Putins an und beschuldigte dort arbeitende Beamte als Verräter. Einer der bisher dreistesten Angriffe Prigoschins gegen den Kreml, findet das ISW.
Seine Kritik drehte sich um die laufende russische Debatte um das Verbot von YouTube. Für Prigoschin scheint die Sache nämlich ganz klar zu sein: YouTube gehört verboten. Fast 40 Prozent der Inhalte auf der Videoplattform seien antirussisch, schreibt er in einer Telegram-Gruppe. Wer das Verbot ablehne, wolle bloss seine Beziehung zu den USA nicht verspielen, sollte Russland gegen die Ukraine verlieren. Diese Beamten würden nur hoffen, dass die USA ihnen nach dem verlorenen Krieg all ihre Sünden vergeben würden. Für ihn seien sie Landesverräter, wütet er:
YouTube werde in naher Zukunft ganz sicher abgeschaltet werden, zeigt er sich überzeugt. Und all diejenigen, die YouTube nach dem Verbot noch aktiv nutzten, würden identifiziert und erhielten die verdiente Strafe, warnt er.
Dass sich zwischen der Wagner-Gruppe und Putin langsam ein Graben aufzutun scheint, hat sich bereits bei der Einnahme Soledars abgezeichnet. So verkündete die Wagner-Gruppe am 10. Januar, dass sie die ostukrainische Stadt Soledar ganz ohne die Hilfe russischer Truppen eingenommen habe.
Das russische Verteidigungsministerium hingegen vermeldete die Einnahme Soledars erst drei Tage später. Und das ohne die Erwähnung der Wagner-Gruppe. Das liess sich die Wagner-Gruppe nicht gefallen. Sie bezichtigte das Verteidigungsministerium, sich mit ihren Errungenschaften zu schmücken.
Noch am selben Abend sah sich das Verteidigungsministerium genötigt, seine Aussage zu revidieren: Es habe sich um eine heterogene Gruppe gehandelt, die am Erfolg in Soledar beteiligt gewesen sei. Sie fügen an:
Dass Russland die Wagner-Gruppe in solch hohen Tönen lobt, ist höchst ungewöhnlich. Noch vor Kurzem wollte Putin – zumindest in der Öffentlichkeit – nichts von dieser Söldnertruppe wissen. Doch die Wagner-Truppe scheint im Gegensatz zu seinen eigenen Gruppen in der Ukraine mehr Erfolge zu verzeichnen. Und genau das bringt Putin nun in eine missliche Lage.
Prigoschin hingegen hat sich damit einen neuen Raum geschaffen, in dem er verbale Kritik ausüben kann, ohne Repressalien zu befürchten.