Die Ukraine kann im Streit um das russisch besetzte Atomkraftwerk Saporischschja auf die breite Unterstützung westlicher Staaten zählen. 42 Länder und die EU veröffentlichten in Wien eine Erklärung, in der sie den sofortigen Abzug der russischen Truppen von dem Kraftwerk und eine Rückgabe der Kontrolle an die Ukraine forderten. Die Schweiz gehört nicht dazu.
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In der Stadt Enerhodar, die direkt an dem AKW liegt, schlugen wieder Artilleriegeschosse ein. Die Ukraine und Russland werfen sich seit Wochen gegenseitig vor, Europas grösstes Kernkraftwerk zu beschiessen und damit eine atomare Katastrophe heraufzubeschwören.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief die Bevölkerung Russlands auf, ihre Stimme zur Unterstützung der Ukraine zu erheben. «Das Böse findet in einem solchen Massstab statt, dass Schweigen einer Mitschuld gleichkommt», sagte er in seiner Videoansprache am Sonntag. Russland hat die Ukraine am 24. Februar angegriffen und führt den Krieg immer weiter. Aussichten auf eine Verhandlungslösung gibt es derzeit nicht. Die Ukraine wehrt sich am Montag den 173. Tag gegen die Invasion.
«Die Stationierung von russischen Militärs und Waffen in der Atomanlage ist inakzeptabel», hiess es in der Wiener Erklärung zu Saporischschja vom Sonntag. Sie war im Namen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer unterzeichnet worden, aber auch von Staaten wie den USA, Grossbritannien, Norwegen, Australien, Japan oder Neuseeland. Russland verletze die Sicherheitsprinzipien, auf die sich alle Mitgliedsländer der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) verpflichtet hätten.
Die Kontrolle über das AKW müsse den befugten ukrainischen Behörden übergeben werden. Dann wiederum könnten Experten der IAEA zeitnah ihre Aufsichtspflicht über die Arbeit der Ukrainer wahrnehmen. Eine IAEA-Mission in das Kernkraftwerk ist bislang nicht zustande gekommen. Ein Streitpunkt ist angeblich, ob die Experten über ukrainisch oder russisch kontrolliertes Gebiet anreisen.
Die 42 Länder stellten sich hinter die IAEA und deren Direktor Rafael Grossi. Dieser bemühe sich um die Sicherheit der ukrainischen Atomanlagen und respektiere dabei die «volle Souveränität der Ukraine über ihr Territorium und ihre Infrastruktur». Dies lässt sich als Hinweis auf eine Anreise über ukrainisches Gebiet verstehen.
Nach Artilleriebeschuss unbekannter Herkunft auf ein Wohnviertel von Enerhodar am Sonntag berichteten die russische und die ukrainische Seite übereinstimmend von einem getöteten Zivilisten. Der Mann sei Mitarbeiter im AKW gewesen, teilte der Kraftwerksbetreiber Enerhoatom mit. Zwei weitere Bewohner der Stadt seien verletzt worden.
«Wenn Sie die russische Staatsbürgerschaft haben und schweigen, bedeutet dies, dass Sie nicht kämpfen, was bedeutet, dass Sie das unterstützen», sagte Selenskyj in Kiew. Im Unterschied zu früheren Appellen an die Bevölkerung des kriegführenden Nachbarlandes sprach der Präsident sie aber nicht auf Russisch, sondern auf Ukrainisch an.
Umfragen zufolge unterstützt eine Mehrheit der Russen den Kurs von Präsident Wladimir Putin. Die Aussagekraft ist aber unsicher. Offene Kritik am Krieg wird vom russischen Machtapparat streng bestraft. In vielen EU-Ländern, vor allem im Osten, wird die Forderung lauter, Russen keine Visa mehr für Reisen in die EU zu erteilen.
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs hat die russische Armee Geländegewinne bei der seit Tagen angegriffenen Kleinstadt Bachmut im Donbass erzielt. Im Kiewer Lagebericht war von einem «teilweisen Erfolg» der Russen die Rede. An anderen Stellen seien Angriffe abgewehrt worden, so bei dem Ort Pisky ausserhalb von Donezk. Mit starken Stellungen bei Pisky hat die ukrainische Armee seit 2014 verhindert, dass die prorussischen Separatisten von Donezk den zerstörten Flugplatz der Stadt reparieren und militärisch nutzen.
Fast alle Orte entlang der Frontlinie im Osten lagen unter russischen Feuer. Nach Einschätzung westlicher Militärbeobachter kommt der Angriff im Donbass langsamer voran als noch vor einigen Wochen.
Der erste Getreidefrachter im Auftrag der Vereinten Nationen hat den ukrainischen Hafen Piwdennyj verlassen und ist mit Weizen für Afrika unterwegs. Das Welternährungsprogramm der UN (WFP) habe den Frachter «Brave Commander» gechartert, teilten die Behörden des Gebietes Odessa mit. Die 23 000 Tonnen Weizen sind nach UN-Angaben für Äthiopien bestimmt.
Die UN und die Türkei hatten Ende Juli Vereinbarungen vermittelt, dass die Ukraine trotz des russischen Angriffskrieges wieder Getreide über ihre Schwarzmeerhäfen ausführen kann. Seit Anfang August haben mehr als ein Dutzend Frachter ukrainisches Getreide abtransportiert. Allerdings waren die ersten Transporte kommerziell.
Die UN befürchten Lebensmittelknappheit und Hunger in armen Teilen der Welt, wenn die Ukraine als ein wichtiger Getreidelieferant ausfällt. Die Schiffe und ihre Fracht werden jeweils bei der Durchfahrt durch die türkische Meerenge Bosporus kontrolliert. Am Sonntag erhielten dort zwei Schiffe die Genehmigung zur Fahrt in die Ukraine, drei weitere sollen am Montag kontrolliert werden.
Russlands Präsident Putin besucht in der Nähe von Moskau die internationalen Armee-Spiele. Der Wettbewerb zwischen Soldaten aus Russland und aus befreundeten Ländern ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Putin wird nach Angaben des Kremls auch die militär-technische Ausstellung «Army-2022» besuchen. (sda/dpa)