Am 24. Februar beginnt Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. In der Nacht davor steigt der 26-jährige Artillerist Matwei Semjonow* in einen Militärwagen und schläft sofort ein. Als er erwacht, befindet er sich nicht mehr in der Region Brjansk, im Westen von Russland, sondern in Belarus. Vor der Grenze zur Ukraine.
Der Fahrer hält auf einem Feld. Die Truppen steigen aus. Zahlreiche Gewehre liegen am Boden. Semjonows schlimmste Befürchtungen werden wahr. Schon Monate davor soll es unter den Soldaten Gerüchte über einen Angriffskrieg gegen die Ukraine gegeben haben.
Doch Semjonow schenkte den Gerüchten keinen Glauben – er vertraute dem Militär, welches ihm weismachte, dass Russland kein Aggressor sei.
Das kremlkritische und unabhängige Medium Mediazona erzählt die Geschichte eines russischen Soldaten, der zu Beginn des Krieges in der Ukraine gekämpft hat.
*Der Name des Soldaten wurde aus Sicherheitsgründen von Mediazona geändert. Die Identität des Soldaten ist der Mediazona-Redaktion gemäss Nachfrage bekannt. Die Echtheit der Geschichte konnte von watson nicht verifiziert werden.
Semjonow studierte an einer Universität in Westsibirien. Nach dem Abschluss konnte er in seinem Fachgebiet keine Anstellung finden. Um dennoch ein Einkommen zu haben, schloss er sich 2020 einer Militäreinheit in der Nähe seiner Heimat an. Ein Leben fernab seiner Familie und Freunde konnte er sich nicht vorstellen.
Er unterzeichnete einen Vertrag über zwei Jahre. Eineinhalb Jahre arbeitete er im Büro und füllte Dokumente aus. Während dieser Zeit habe er nur zweimal ein Maschinengewehr abgefeuert. Damals ging er davon aus, dass sein Vertrag im Herbst 2022 auslaufen werde.
Doch bis dies so weit ist, steht ihm ein dunkles Kapitel bevor.
Denn: Im Januar 2022 – nachdem er die Hälfte seiner Dienstzeit vor dem Computer gesessen hatte – bekam Semjonow ein Aufgebot. Man schickte ihn nach Jelnja. Die Stadt liegt nur wenige Kilometer vor der Grenze zu Belarus – und Tausende Kilometer entfernt von seiner Heimat.
Einige Soldaten der späteren Invasionstruppe sollen sich bereits im Dezember 2021 im Zeltlager in Jelnja aufgehalten haben. Zum ersten Mal schläft der 26-Jährige in einem schneebedeckten Zeltlager in selbst gebauten Kojen aus Holz. Viel schlimmer als die unbequeme Unterkunft hat er aber den Gestank nach «verfaultem Zeug» in Erinnerung.
Doch dies ist noch nichts – verglichen zu dem, was später folgen wird.
Als er im Lager in Jelnja ankommt, kursieren unter den Kollegen bereits Gerüchte über einen Überfall auf die Ukraine. Er selbst, sagt Semjonow, sei davon überzeugt gewesen, dass es keinen Angriffskrieg geben werde. Dies glaubte er vor allem, weil die höheren Offiziere immer wieder wiederholten, dass Russland nicht die Absicht habe, die Ukraine anzugreifen.
Semjonow erinnert sich an den Satz: «Russland ist kein Aggressor», den man ihm und seinen Kollegen ständig eingetrichtert habe.
Nach den Übungen wechselte die Truppe Mitte Februar ihren Standort an die Grenze zu Belarus. In die Stadt Nowosybkow in der Region Brjansk.
Die Gerüchte in der Truppe über einen bevorstehenden Krieg wurden lauter.
Zu diesem Zeitpunkt habe bereits der Divisionskommandant davon gesprochen, dass man die Grenze zur Ukraine wohl bald passieren werde. Doch Semjonow redet sich weiterhin ein, dass nichts passieren werde.
«Macht euch bereit, Jungs, nehmt ein Minimum an Sachen» – am Abend des 23. Februars wird die Truppe aufgefordert, in einen Bus zu steigen, um an der belarussischen Grenze eine Übung durchzuführen.
Semjonow schnappt sich das Nötigste: eine kugelsichere Weste, einen Helm, Toilettenpapier sowie einen Schlafsack. «Wir dachten, wir würden nur kurze Zeit abwesend sein und dann wiederkommen», sagt Semjonow gegenüber Mediazona.
Doch die Truppe täuscht sich.
Als die Einheit die Grenze erreicht, findet sie bereits einen zertrümmerten Grenzkontrollpunkt vor. Erst da werden sie über die «militärische Spezialoperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine» informiert.
Für Semjonow gibt es ab jetzt kein Zurück mehr. Er hofft auf einen Blitzkrieg.
Doch aus Tagen wurden Wochen. «Unsere Artillerie hat während eines Monats jede Nacht auf die Stadt Tschernigow [ukrainisch Tschernihiw, Red.] geschossen», erzählt Semjonow dem russischen Medium.
Die Einwohner der Region hätten wegen des ständigen Beschusses während eines Monats praktisch ohne Wasser, Heizung, Strom und Kommunikation auskommen müssen. Irgendwann wurde die Brücke gesprengt, die Tschernihiw mit Kiew verbindet. Dies erschwerte die Evakuierung sowie die humanitäre Hilfe. Dennoch gelang es den russischen Truppen nicht, das Gebiet einzunehmen.
Am 30. März erhält Semjonows Brigade den Befehl, nach Russland zurückzukehren. Während der ganzen Zeit habe die Truppe bei Temperaturen von 5 Grad am Boden in Schlafsäcken mit Ameisen und Kakerlaken übernachtet.
Weil die Soldaten nur das Minimum an Sachen eingepackt haben, beginnen sie damit, Kleidung der Ukrainerinnen und Ukrainer zu klauen. Dabei soll es aber nicht bleiben.
In den Dörfern der Region Tschernihiw sei es zu Massenplünderungen gekommen, berichtet Semjonow. Nach dem Diebstahl von Kleidung folgen Diebstähle von Baumaterialien wie Sägen und Schaufeln.
Als die Soldaten merken, dass sie «alles ungestraft mitnehmen können», verschwinden auch Fernseher, Autos, Motorräder und Traktoren aus den Häusern und Garagen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Waschmaschinen und Kühlschränke sind laut Semjonow nicht entwendet worden.
Jenen Soldaten, die durch Beschuss oder durch vernachlässigte Schutzmassnahmen (kugelsichere Westen oder Helme etc.) schwer verletzt wurden, habe man eine Entschädigung von 3 Millionen Rubel (umgerechnet rund 50'000 CHF) zugesprochen. Familien von toten Soldaten erhalten laut Aussagen von Semjonow 7,4 Millionen Rubel (rund 120'000 CHF).
Semjonow selbst soll für seinen rund zweimonatigen Einsatz in der Ukraine 118'000 Rubel (etwa 1900 CHF) erhalten haben.
Die Rückkehr nach Russland bedeutete nicht die Auflösung der Einheit, sagt der Soldat. Von 200 Männern der Invasionstruppe, die nach Russland zurückkehrten, hätten sich aber 25 Männer geweigert, erneut in den Krieg zu ziehen.
Mit verschiedenen Druckmitteln sowie Drohungen habe man versucht, die Männer dazu zu bringen, weiter für ihr Land zu kämpfen.
Mit Erfolg. Von den Männern, die sich anfangs geweigert hätten, seien alle ein weiteres Mal in die Ukraine einmarschiert – mit Ausnahme von Semjonow. Er selbst wurde wegen eines nicht bekannten Gesundheitsproblems entlassen.
Mit 26 Jahren und einer Rente von 3400 Rubel (rund 55 CHF) ist Matwei Semjonow nun Kriegsveteran.
Erich Maria Remarque hat ein Comeback.