Google hat schnell reagiert. Gibt man in der Suchmaske «Stepanakert» ein, den bislang international geläufigen Namen der Hauptstadt von Berg-Karabach, erscheint zuoberst die Bezeichnung Khankendi. So heisst die Stadt offiziell, seit Aserbaidschan die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Kaukasusregion vor rund zwei Wochen vollständig erobert hat.
Nun gleicht Stepanakert – oder eben Khankendi – einer Geisterstadt. Denn mehr als 100’000 Menschen sind seit der militärischen Niederlage nach Armenien geflüchtet. Die Regierung in Baku hatte sie zum Bleiben aufgefordert, doch nach mehr als 30 Jahren voller Hass und Gewalt traut kaum jemand den Zusicherungen aus Aserbaidschan.
Das EU-Parlament hat Aserbaidschan am Donnerstag eine «ethnische Säuberung» der armenischen Bevölkerung vorgeworfen und «gezielte Sanktionen gegen Personen in der aserbaidschanischen Regierung» gefordert. Eine ähnliche Wortwahl verwendete die armenische Gemeinschaft der Schweiz am Mittwoch in einer Mitteilung.
Schweizer Bürger armenischer Herkunft seien sehr besorgt und fassungslos über das Schweigen ihrer Wahlheimat, heisst es. Als Mitglied des UNO-Sicherheitsrats habe die Schweiz die Möglichkeit und Verantwortung, die armenische Bevölkerung zu schützen. Sie solle sich für eine Verurteilung der militärischen Aggression Aserbaidschans einsetzen.
Dazu aber ist die offizielle Schweiz nicht bereit. Während die EU das militärische Vorgehen Aserbaidschans im Sicherheitsrat verurteilte, sagte Botschafterin Pascale Baeriswyl nur, die Schweiz sei «zutiefst besorgt». Auch das Aussendepartement EDA schrieb auf Anfrage mehrerer Medien, die Schweiz habe ihre «tiefe Besorgnis» zum Ausdruck gebracht.
Ein Statement von Aussenminister Ignazio Cassis gibt es nicht. Ein Treffen mit Mitgliedern der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Armenien verlief gemäss Tamedia enttäuschend. Es gebe keinen diplomatischen Plan, um im Kaukasus zu vermitteln, sagte der Solothurner Mitte-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt. Die Schweiz biete einfach ihre guten Dienste an.
Im EDA glaubt man laut Tamedia, dass die Schweiz dank ihrer Erfahrung in der Region tatsächlich eine Rolle spielen könnte. Gemeint ist wohl das Abkommen zwischen Armenien und der Türkei, das vor ziemlich genau 14 Jahren an der Universität Zürich unterzeichnet wurde. Sogar US-Aussenministerin Hillary Clinton war zur Zeremonie angereist.
Denn die mit dem von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey vermittelten «Friedensvertrag» verbundenen Erwartungen waren gross. Fast 100 Jahre nach dem türkischen Völkermord an den Armeniern, der 1915 rund 1,5 Millionen Menschenleben gekostet hatte, sollten die Feindseligkeiten zwischen den Nachbarstaaten beigelegt werden.
Allerdings verzögerte sich die Zeremonie um rund drei Stunden, weil es bis zuletzt Unstimmigkeiten gab. Und wirklich zum Tragen gekommen ist das Abkommen nie. Der Frieden zwischen Armeniern und Türken blieb «kalt» und ist heute komplett eingefroren, denn die Türkei ist der wichtigste militärische und politische Verbündete von Aserbaidschan.
Für die Schweiz und ihre guten Dienste war es immerhin ein symbolischer Erfolg. Viele sind seither nicht hinzugekommen. Im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine blieb die Schweiz stets in der Zuschauerrolle. «Die guten Dienste werden im heutigen Diskurs masslos überschätzt», sagte der Berner Historiker Sacha Zala gegenüber CH Media.
Er forscht zu den schweizerischen Aussenbeziehungen und kam zum Schluss, die Wirkung der guten Dienste der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg sei «entgegen der überhöhenden Erzählung im Inland» überschaubar gewesen. Für die Vermittlung von Konflikten fehlte der Schweiz oft der notwendige machtpolitische Einfluss.
International bleibt die Schweiz mit ihrer ebenfalls überhöhten Neutralität ein Leichtgewicht. Und sie hat immer mehr Mühe, ernst genommen zu werden, auch weil sie eine Regierung ohne «richtige» Chefin oder Chef hat. «Niemand versteht zum Beispiel, warum wir jedes Jahr einen anderen Präsidenten haben», stellte die frühere Staatssekretärin Livia Leu fest.
Es ist mehr als fraglich, dass Armenien und Aserbaidschan an den guten Diensten der Schweiz interessiert sind. Für die Armenier in der Schweiz ist klar, dass der Bundesrat ihre Landsleute «aus wirtschaftlichen Gründen» im Stich lässt. Denn Aserbaidschans staatliche Erdölgesellschaft Socar wickelt ihre internationalen Handelsgeschäfte in Genf ab.
Socar betreibt zudem rund 200 Tankstellen in der Schweiz, teilweise in Zusammenarbeit mit der Migros. Als Aserbaidschan vor drei Jahren einen grossen Teil von Berg-Karabach «zurückerobert» hatte, veröffentlichte Socar in den sozialen Netzwerken rabiate Kriegspropaganda. Schon damals duckten sich die offizielle Schweiz und die Migros weg.
So hält es der Grossverteiler auch heute, nach der faktischen Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Berg-Karabach. Massgebend sei, dass weder das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO noch der Bundesrat «gegenwärtig Sanktionen oder Zwangsmassnahmen gegen Aserbaidschan beschlossen haben», teilte die Migros auf Anfrage von «10vor10» mit.
Die Betonung liegt auf «gegenwärtig», denn bereits droht der nächste bewaffnete Konflikt. Aserbaidschan verlangt von Armenien einen Korridor zur Exklave Nachitschewan. Falls es diesen mit militärischen Mitteln durchsetzen will, kann die Schweiz nicht länger ihre guten Dienste vorschieben. Denn das wäre ein direkter Angriff auf armenisches Staatsgebiet.
Dazu zB Tagesschau vom 9.8.2022:
... als EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen mit ihm eine neue Energiepartnerschaft besiegelte ... von der Leyen lobte Aserbaidschan als zuverlässigen Gaslieferanten: Es werde ein neues Kapitel in der Energiezusammenarbeit mit Aserbaidschan aufgeschlagen, das ein wichtiger Partner bei den Bemühungen sei, unabhängig von fossilen Brennstoffen aus Russland zu werden ...
... und auch Scholz noch im März 23 noch genau gleich