Im Konflikt um Berg-Karabach machte Aserbaidschan vergangene Woche schnell Nägel mit Köpfen: Schon einen Tag nach Beginn der aserbaidschanischen Militäroperation in dem von Armeniern dominierten Gebiet mussten die Verteidiger der selbsterklärten Republik Berg-Karabach die Waffen strecken. Angesichts Tausender Flüchtlinge aus dem Gebiet droht eine humanitäre Katastrophe.
Und nun schielt Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew offenbar auf neue Gebietsgewinne. Ein Treffen mit dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan am Montag in der aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan rückte den Fokus auf einen weiteren Konfliktherd zwischen Aserbaidschan und Armenien: die Einrichtung eines von Baku kontrollierten Korridors in Sangesur, einer Region im Südosten Armeniens.
The next step should be the re-opening of the Zangezur #corridor and all #communications. Welcome to the #United #Caucasus. pic.twitter.com/h0p7Gai0Hz
— Vugar Bayramov (@BayramovMP) September 23, 2023
Im Vorfeld des Treffens teilten türkische Medien Karten, auf denen sowohl Nachitschewan als auch Gebiete im Südosten Armeniens als aserbaidschanisch deklariert werden. Zudem bezeichnete ein aserbaidschanischer Abgeordneter die Einrichtung eines Landwegs nach Nachitschewan als «nächsten logischen Schritt». Welche Ziele verfolgt Aserbaidschan in der Region? Und kommt es bald erneut zu einer militärischen Eskalation? Das sind die wichtigsten Antworten.
Nachitschewan ist eine aserbaidschanische Enklave, sie firmiert als Autonome Republik Nachitschewan. Das Gebiet wird zum Grossteil von Armenien und dem Iran umschlossen, hat jedoch auch eine weniger Kilometer lange Grenze mit der Türkei. Aserbaidschan macht zunehmend Druck auch auf Gebiete im Südosten Armeniens, um einen Korridor nach Nachitschewan über die Region Sangesur zu schaffen.
Stefan Meister, Kaukasus-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), nennt eine militärische Einnahme des Sangesur-Korridors den «nächsten logischen Schritt für Aserbaidschan». Verhandlungen mit Armenien über einen solchen extraterritorialen Korridor hätten bisher nicht zum von Aserbaidschan gewünschten Ergebnis geführt.
Die Karten, die zuletzt in sozialen Netzwerken aufgetaucht sind, könnten eine Art Test für die internationale Reaktion sein, meint Meister. «Bleibt die internationale Reaktion schwach, so könnte es erneut zu einer Militäraktion kommen», warnt er.
«Das ist insgesamt recht wahrscheinlich», erklärt Meister. «Aserbaidschan fühlt sich im Moment in einer Position der Stärke.» Denn sowohl die EU als auch die USA hätten zuletzt eher schwach auf den aserbaidschanischen Angriff auf Berg-Karabach reagiert. «Sollten zudem die Türkei und Russland einer Militäraktion Aserbaidschans zur Einrichtung des Sangesur-Korridors zustimmen, dann ist eine Eskalation schon sehr bald möglich.» Die Frage sei nur, wann, sagt der Politologe und Historiker. Die Türkei unterstützt Aserbaidschan, während Russland Schutzmacht Armeniens ist.
Rhetorisch pocht der aserbaidschanische Präsident Alijew schon jetzt auf sein Ziel: Das «westliche Aserbaischan», womit er letztlich Armenien meine und damit dem Nachbarland seine Existenzberechtigung abspreche, erklärt Meister. «Es ist eine offene Drohung an Eriwan.» Offiziell gehe es Alijew aktuell jedoch um die Einrichtung des Sangesur-Korridors.
Wie auch den pro-armenischen Kämpfern in Berg-Karabach in der vergangenen Woche bliebe Armenien bei einem Angriff durch Aserbaidschan nichts anderes übrig, als sich mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Armenien hatte, nicht zuletzt aufgrund seines vergleichsweise schwachen Militärs, beim Angriff Aserbaidschans auf Berg-Karabach nicht militärisch eingegriffen. Auch eine von Aserbaidschan behauptete militärische Provokation vor dem Angriff halten Experten aufgrunddessen für unwahrscheinlich, denn Armeniens Armee gilt als unterlegen.
Dabei sind insbesondere Russland, die Türkei und Iran zu nennen. Die Türkei unterstütze Alijew bei seiner Forderung nach einem Sangesur-Korridor, erklärt Meister. Das zeige unter anderem der Besuch des türkischen Präsidenten. Dabei feierte er mit Alijew die Grundsteinlegung einer Erdgaspipeline zwischen der Türkei und Nachitschewan. Zudem gratulierte der türkische Staatschef seinem Amtskollegen zum «historischen Erfolg» in Berg-Karabach. «Erdogan wird nichts gegen die Einrichtung des Korridors haben», sagt Südkaukasus-Experte Meister darum.
Der zweite grosse Akteur in der Region ist Russland. Als erklärte Schutzmacht Armeniens kann kein Konflikt im Kaukasus ohne russische Beteiligung ausgetragen werden. Doch das russische Interesse hat sich nicht zuletzt wegen seines Angriffskriegs gegen die Ukraine verschoben. «Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine ist Aserbaidschan für Russland immer wichtiger geworden», sagt Stefan Meister.
Wegen der westlichen Sanktionen ist der Kreml auf Aserbaidschan angewiesen. «Moskau braucht den Nord-Süd-Korridor nach Iran, um weiter mit Waffen und anderen Gütern versorgt zu werden.» Iran unterstützt Russland unter anderem mit Shahed-Drohnen sowie Bauteilen. Zudem sei Russland militärisch geschwächt und habe seine Truppen aus Armenien abgezogen.
Das Land bleibe dennoch weiter von Russland abhängig, sagt Meister – auch wenn der armenische Premier Nikol Paschinjan die Nähe zum Westen suche. So führte Armenien kurz vor dem aserbaidschanischen Angriff noch eine gemeinsame Militärübung mit den USA zum Ziel der Abschreckung durch.
Nicht zuletzt bleibt noch Iran. Wie das islamische Regime in Teheran auf eine militärische Eskalation in der Region Sangesur reagieren würde, ist fraglich. Kaukasus-Experte Meister hält jedoch sogar ein militärisches Eingreifen für möglich. «Im Norden des Iran lebt eine aserbaidschanische Minderheit», erklärt der Politologe. Die Region ist also für Aserbaidschan von Interesse und könnte ein Einfallstor darstellen.
«Teheran kann deshalb kein Interesse daran haben, dass Aserbaidschan und damit auch die Türkei, ein Gegner des Iran, an Macht in der Region gewinnen», sagt Meister. Iran gilt demnach – wenn auch mit Unwägbarkeiten – als Verbündeter Armeniens, vor allem um separatistischen Bewegungen im eigenen Land vorzubeugen.
Am 5. Oktober wollen sich Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan und Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew im spanischen Granada zu einem Gipfel treffen. Dazu werden auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sowie der französische Präsident Emmanuel Macron und EU-Ratspräsident Charles Michel kommen. Das Treffen soll laut armenischen Angaben schon länger geplant gewesen sein. Frankreich, Deutschland und die EU versuchen seit längerem, im Jahrzehnte alten Konflikt um Berg-Karabach zu vermitteln.
Was davon zu erwarten ist, bleibt vorerst unklar. «Armenien hat überhaupt keine Verhandlungsmasse», meint Stefan Meister. Dennoch könne Paschinjan den aserbaidschanischen Forderungen – etwa nach der Einrichtung eines Sangesur-Korridors – politisch nicht zustimmen.
Daneben wird es bei dem Gipfel wohl um ein Friedensabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan gehen. Bisher gab es nach dem Zweiten Berg-Karabach-Krieg in 2020 lediglich ein Waffenstillstandsabkommen, das mehrfach gebrochen wurde. Nun kontrolliert Aserbaidschan das Gebiet. Und nicht zuletzt wird es um die generelle Fixierung der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan gehen, da der Verlauf an mehreren Stellen umstritten ist.
Kaukasus-Experte Meister sieht nun die EU in der Pflicht. «Besonders die EU müsste Verhandlungsmasse aufbauen, um Armenien besser unterstützen zu können. Dazu wäre die Androhung von Sanktionen gegen Aserbaidschan im Fall einer militärischen Eskalation ein probates Mittel.» Bisher habe sich die EU aber unter anderem wegen der Blockadehaltung einiger Mitgliedsstaaten auf keine gemeinsame Erklärung zu dem Konflikt einigen können.