In der Bilderflut aus dem Ukraine-Krieg tauchen immer wieder Schweizerkreuze auf. Diese Woche verbreitete das ukrainische Verteidigungsministerium auf Twitter ein Selfie einer Soldatengruppe mit dem Aufruf, sich dem Kampf gegen die russische Tyrannei anzuschliessen. Auf der Brust eines Soldaten prangt ein weisses Kreuz auf rotem Grund. Sogleich wurde spekuliert, es könnte sich um einen Schweizer handeln.
Doch das ist eine falsche Fährte. Aufgenommen und erstmals verbreitet wurde das Foto zwei Tage vorher von einem der Soldaten auf Instagram, wo er seine Kollegen auf dem Bild markiert hat. Dadurch lässt sich der Mann mit dem Schweizerkreuz identifizieren: Es ist ein Ukrainer, der eine rechtsextreme Organisation unterstützt und die letzten Jahre in Kiew verbracht hat.
Bis jetzt haben die Schweizer Behörden erst in einem Fall beweisen können, dass ein Bürger im Ukraine-Konflikt im Einsatz stand. Paolo G.* schloss sich 2015 prorussischen Separatisten in der Region Donezk an. 2020 wurde er dafür von der Militärjustiz wegen fremden Militärdienstes verurteilt. Denn es ist verboten, sich ohne Bewilligung des Bundesrats einer fremden Armee anzuschliessen. Der Fall war bisher in den Medien nur eine Randnotiz. Doch was bringt einen Schweizer dazu, alles aufzugeben, um in den Krieg zu ziehen?
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Paolo G. hat eine ruhige Stimme und wilde Locken. Er wirkt nicht wie ein Krieger. Er erklärt sich bereit, über seine Erlebnisse und seine Beweggründe zu sprechen, aber nicht über seine persönliche Situation. Angaben dazu stehen im rechtskräftigen Strafmandat der Militärjustiz, das CH Media vorliegt.
Paolo G., Jahrgang 1994, wächst in Lugano auf und absolviert eine Lehre als Kaufmann. Mit zwanzig Jahren befindet er sich in einer schwierigen Situation. Er ist arbeitslos und wohnt noch zu Hause, versteht sich aber nicht mit seinen Eltern. Er verbringt viel Zeit im Internet, wo er sich über den Konflikt in der Ukraine informiert.
Im Osten des Landes hat ein Krieg begonnen, der damals für die meisten Leute in der Schweiz nur als eine Nachricht unter vielen wahrgenommen wird. Ganz anders wirken die Meldungen auf Paolo G. Er gerät in einen Sog. Er findet es ungerecht, dass die russische Minderheit nicht über sich selber bestimmen dürfe. Er sagt: «Ich glaube ganz einfach, dass Russland diesmal auf der richtigen Seite steht. Deshalb bin ich gegangen. So einfach ist es.»
Seine Meinung habe er bis heute nicht geändert, sagt er, auch wenn man über «einige Fehler Russlands» diskutieren könne. Aus seiner Sicht hat sich der Westen in der Ukraine in fremde Angelegenheiten eingemischt und damit den Konflikt ausgelöst.
Im März 2015 packt Paolo G. zwei Koffer und geht an den Bahnhof von Lugano. Er lässt sich von einem Freund begleiten. Sonst informiert er niemanden. Sein Vater merkt nichts, da er gerade in den Ferien weilt.
Paolo G. nimmt einen Bus nach Mailand, von dort einen Direktflug nach Moskau und fliegt weiter in die südrussische Stadt Rostow am Don. In einem Taxi passiert er die Grenze ins Kriegsgebiet von Donezk. Die erste Person in Uniform spricht er an und fragt, was er tun müsse, um «helfen» zu können. Er wird in die internationale Brigade Pjatnascka eingeteilt.
Er schreibt seinen Facebook-Freunden in der Heimat, er sei in der Ukraine mit einem Panzer gefahren, in der Nähe seien Raketen eingeschlagen und ein Panzer habe einen feindlichen Kontrollpunkt zerstört. In einer Mitteilung prahlt er: «Es ist wahnsinnig cool! Ich verstehe sehr wenig, aber das Szenario ist beinahe apokalyptisch.»
Ganz anders schildert er seine Geschichte in der Einvernahme durch die Schweizer Militärjustiz und im Gespräch mit CH Media. Er gibt zu Protokoll: «Es war alles ruhig. Es passierte nichts. Ich brauchte etwas Zeit, um zu verstehen, dass alles eine Zeitverschwendung war.»
Deshalb sei er nach über einem Jahr im Herbst 2016 zurück in die Schweiz gekehrt. Die Ermittler kamen ihm auf die Spur, weil sein Vater nach der Rückkehr aus den Ferien eine Vermisstenmeldung aufgab. Kurz darauf meldete sich der Sohn bei ihm über Facebook. Die Militärjustiz verurteilte ihn später zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse. Sie nimmt an, dass er seine Geschichte auf Facebook aufgebauscht habe, um anzugeben.
Paolo G. erzählt, er sei in einem ehemaligen Schulhaus untergebracht gewesen und habe an einigen Märschen und Schiessübungen teilgenommen. Und sonst? «Nichts», sagt er. Er habe nicht gekämpft. Sie hätten ihr Gebiet überwacht, aber es sei nichts passiert.
Die meiste Zeit sei er einfach herumgesessen, habe mit den anderen Soldaten geredet und Russisch gelernt. Die Russen hätten ihn immer wieder gefragt, warum ein Europäer freiwillig in den Krieg ziehe. Er habe ihnen geantwortet, er sei ein Idealist und wolle helfen. Er habe kein Geld erhalten, aber neben der Reise auch keine Ausgaben gehabt.
Oft sind ausländische Soldaten vor allem für die Moral einer Truppe wichtig. Sie sollen den Unentschlossenen zeigen, dass es sich auch lohne, freiwillig in den Krieg zu ziehen. Die internationalen Kämpfer wirken als Propaganda nach innen.
Paolo G. verstrickt sich in Widersprüchen. In der Einvernahme sagt er, er sei nicht ausgebildet worden und habe keine Waffe verwendet. Im Gespräch erzählt er jedoch von Schiessübungen. Die Militärjustiz kann ihm aber keine Kampfhandlungen nachweisen. Deshalb fällt die Strafe nur bedingt aus. Verurteilt wird er, weil er die Neutralität der Schweiz verletzt hat. Dafür zählt bereits der Eintritt in fremden Militärdienst.
Es gibt allerdings auch eine Quelle, gemäss der die Rolle von Paolo G. für die prorussischen Separatisten grösser war als von der Schweizer Militärjustiz angenommen. Eine ukrainische Website listet mutmassliche russische Kriegsverbrecher mit Personalien und Fotos auf und will damit internationale Strafverfolgungsbehörden bei der Arbeit unterstützen. Die Liste basiert auf Unterlagen der russischen Separatisten, welche die Ukrainer abgefangen haben.
Paolo G. ist darauf als «leitender Aufklärungsoffizier der Geheimdienstabteilung» aufgeführt. Die weiteren Angaben zu ihm und sein Foto sind authentisch. Paolo G. bestätigt dies. Er dementiert aber die genannte Funktion. Er habe den Rang eines einfachen Soldaten gehabt. Die Militärjustiz hat ihm dies geglaubt.
Ein psychiatrischer Gutachter hat Paolo G. im Auftrag der Militärjustiz untersucht. Er stellt ihn als Hilfesuchenden dar. Wenn der Tessiner seine Reise in den Krieg mit den Worten «Ich möchte helfen» erkläre, meine er eigentlich «Helft mir!», was verständlich sei angesichts seiner Situation.
Der Psychiater diagnostiziert eine schizoide Persönlichkeitsstörung, was bedeutet, dass Paolo G. kein Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen zeige. Psychische Probleme waren auch der Grund, dass er in der Schweiz keinen Militärdienst leisten durfte. An der Aushebung hatte er den psychologischen Test nicht bestanden.
Das Erstaunliche an der Geschichte von Paolo G. ist, dass sein Leben inzwischen wieder in geordneten Bahnen verläuft. Er hat nochmals eine Lehre absolviert und hat heute einen 100-Prozent-Job in einer anderen Branche. Er äussert sich zwar noch gleich wie damals, er kritisiert den Westen und bekundet Verständnis für Russland. Aber er scheint sich mit seinem Leben in der Schweiz arrangiert zu haben. Er denke nicht mehr daran, zurück in den Krieg zu reisen. Er habe seinen Beitrag geleistet, sagt er, auch wenn dieser marginal gewesen sei.
* Name geändert.
Aber Jeans tragen, US-Filme gucken, eine Lehre machen, freie Meinungsäusserung, Wahlfreiheit über alle Bereiche des Lebens, Sicherheit, ein Auskommen
Einfach ein normales Leben.
Aber nein, es wird radikal so gelebt und es werden andere grundlos terrorisiert, exakt so weswegen man aus der Heimat geflohen ist.
Warum kann man nicht zu Hause tumm thun und endlich die anderen 99% in Frieden leben lassen.
Weil…? Eben.