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Putin nicht reizen? Was uns München 1938 und der 1. Weltkrieg dazu sagen

Putin, Atombombe (Bildmontage)
Die Angst vor einem Atomkrieg ist seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine gewachsen.Bild: watson

Soll man Putin nicht reizen? Was uns München 1938 und der Erste Weltkrieg dazu sagen

07.05.2022, 13:5607.05.2022, 17:05
Daniel Huber
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Wieder ist sie da, die Furcht vor einem dritten Weltkrieg. Wohl noch nie seit der Kubakrise 1962 war die Furcht, eine aus dem Ruder laufende Eskalation könne zu einem Atomkrieg führen, dermassen greifbar wie heute. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 rückte die Möglichkeit eines Atomkriegs weit in den Hintergrund; wer jünger als 40 Jahre ist, kennt diese Furcht kaum noch.

Das hat sich mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine geändert. Nachdem Wladimir Putins «Blitzkrieg» in der Ukraine gescheitert ist und auch die Grossoffensive im Donbass kaum vorankommt, steht der russische Präsident mit dem Rücken zur Wand. In den gelenkten russischen Medien werden bereits Szenarien eines möglichen nuklearen Angriffs auf Nato-Staaten erörtert. Im Westen wächst die Besorgnis, Putin könnte mit dem Einsatz einer taktischen Atombombe in der Ukraine auf westliche Waffenlieferungen reagieren – mit unabsehbaren Folgen.

Die Furcht vor einem neuen Weltkrieg hat mehrere deutsche Prominente – darunter die Publizistin Alice Schwarzer – dazu bewogen, in einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz vor den Waffenlieferungen an die Ukraine zu warnen. Die Unterzeichner fürchten, solche Lieferungen könnten Putin ein Motiv für die Ausweitung des Kriegs auf Nato-Staaten geben, die einander wiederum aufgrund des Nato-Vertrags militärisch beistehen müssten.

Obwohl die Unterzeichner den Ersten Weltkrieg nicht erwähnen, erinnert das von ihnen befürchtete Szenario in Teilen an dessen Ausbruch. Damals führte die Mechanik der Bündnisse und der Mobilmachungen zwischen den Grossmächten zu einer Kettenreaktion von Kriegserklärungen und damit zum Weltenbrand.

Manche Kritiker des Appells – etwa der CDU-Politiker Ruprecht Polenz in einem Gastbeitrag in der «Zeit» – warfen ihm dagegen «Appeasement» vor. Damit ist die Appeasement-Politik gemeint, die es dem deutschen Diktator Adolf Hitler vor Kriegsausbruch ermöglichte, das Sudetenland zu annektieren, und die den Zweiten Weltkrieg gleichwohl nicht verhindern konnte. Andere Stimmen stellten deshalb fest, Schwarzer und ihre Mitstreiter hätten nichts aus der Geschichte gelernt.

Historische Vergleiche sind heikel, das ist eine Binsenwahrheit. Allerdings heisst vergleichen noch lange nicht gleichsetzen, jedenfalls dann, wenn neben den Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede beleuchtet werden. Der Blick auf die Vergangenheit kann im besten Fall dazu beitragen, Fehler in der Gegenwart zu vermeiden. Blicken wir also mit der gebotenen Vorsicht zurück, was uns die Ereignisse und Entwicklungen im Vorfeld der beiden Weltkriege heute sagen können.

Schritte in den Abgrund

Im Frühsommer 1914 war die Kriegsgefahr in Europa trotz einer schon länger angespannten internationalen Lage nicht übermässig gross. Dies änderte sich am 28. Juni mit dem Attentat von Sarajevo, bei dem der Thronfolger Österreich-Ungarns und seine Gemahlin von einem serbischen Nationalisten ermordet wurden. Österreich-Ungarn versuchte das Attentat mit Rückendeckung seines deutschen Bündnispartners für eine Abrechnung mit Serbien zu nutzen, was dessen Schutzmacht Russland auf den Plan rief. In der sogenannten Julikrise stellte Österreich-Ungarn Serbien ein unannehmbares Ultimatum, dessen zentrale Forderung die Regierung in Belgrad zurückwies.

APA19049176-2_25062014 - WIEN - ÖSTERREICH: Zeichnung des Moments der Schussabgabe durch den Attentäter Gavrilo Princip am 28. Juni 1914. Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Fran ...
Das fatale Attentat in Sarajevo.Bild: APA

Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Nun erfolgten kurz nacheinander Teil- und Generalmobilmachungen der Grossmächte, die am 1. August in der Kriegserklärung Deutschlands an Russland gipfelten, gefolgt am 3. August von jener an Frankreich – vornehmlich aus militärstrategischen Überlegungen aufgrund der deutschen Mittellage. Der Einmarsch deutscher Truppen im neutralen Belgien – wie im Schlieffen-Plan vorgesehen – provozierte dann am 4. August den Kriegseintritt Grossbritanniens.

Gründe für die Eskalation

Diese verhängnisvolle Eskalation hatte verschiedene Gründe. Besonders das europäische Bündnissystem mit seinem Automatismus der Mobilmachungen und Kriegserklärungen trug viel dazu bei: Europa war in zwei Blöcke gespalten – der Dreibund mit Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien auf der einen Seite, die Triple Entente mit Frankreich, Russland und Grossbritannien auf der anderen. Beide Allianzen hatten sich zudem von Defensiv- immer mehr zu Offensivbündnissen gewandelt. Allgemein herrschte die Auffassung vor, dass es früher oder später zu einem Krieg zwischen den Blöcken kommen musste.

Das offizielle Bündnissystem im Jahr 1914.
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35039022
Das offizielle Bündnissystem im Jahr 1914: Triple Entente (blau), Dreibund (rot; Italien trat jedoch 1915 auf Seiten der Entente in den Krieg ein).Karte: Wikimedia/Furfur

Eine wichtige Rolle spielten auch die Isolation Deutschlands und die prekäre innenpolitische Situation in Österreich-Ungarn. Das wirtschaftlich und militärisch starke Deutsche Reich bestand erst seit 1871 und suchte als «zu spät gekommene Grossmacht» aggressiv einen «Platz an der Sonne» in Konkurrenz zu den anderen imperialistischen Kolonialmächten. Unter Kaiser Wilhelm II. wurde das von Bismarck fein austarierte System der Bündnisse aufgegeben, in dem Berlin eine Mittlerposition eingenommen hatte. Nun war Österreich-Ungarn sein letzter Verbündeter – Italien ging bereits in der Julikrise auf Distanz und trat später sogar auf Seite der Entente in den Krieg ein. Die massive deutsche Aufrüstung der Flotte verärgerte zudem Grossbritannien. Berlin fühlte sich daher zunehmend eingekreist.

Österreich-Ungarn kämpfte dagegen mit schweren inneren Problemen; wachsende nationalistische Bestrebungen vornehmlich der unterdrückten slawischen Bevölkerung drohten den Vielvölkerstaat zu zerreissen. Wien sah in einem erfolgreichen begrenzten Krieg gegen das schwache Serbien eine Möglichkeit, seinen Untergang hinauszuschieben – eine Flucht in den Krieg, oder ein «Selbstmord aus Lebensangst», wie ein kluger Kopf es später nannte. Angesichts der russischen Rückendeckung für Serbien konnte die Doppelmonarchie jedoch nicht allein gegen den Balkanstaat vorgehen. Sie benötigte dazu die Unterstützung Deutschlands – die sie in Form des berühmten «Blankoschecks» auch erhielt.

Die Sprachgruppen Österreich-Ungarns im Jahr 1910 (basierend auf dem Geschichtsatlas von William R. Shepherd, 1911)
https://de.wikipedia.org/wiki/Österreich-Ungarn#/media/Datei:Austria_Hungary_ethnic_ ...
Die Doppelmonarchie war ein Vielvölkerstaat. Karte: Wikimedia

Russland im Vergleich zu Österreich-Ungarn ...

Ein Vergleich zwischen dem Ukraine-Krieg und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs fördert einige wenige Gemeinsamkeiten zutage, aber auch deutliche Unterschiede. So erinnert der russische Einmarsch in der Ukraine ein wenig an den Serbienfeldzug Österreich-Ungarns von August bis September 1914. Auch dieser verlief weitgehend erfolglos, und im Dezember zwang eine serbische Gegenoffensive die österreichische Armee sogar zum Rückzug.

Das Motiv der Doppelmonarchie – die Disziplinierung Serbiens, die zugleich ein innenpolitisches Signal der Stärke an die slawische Reichsbevölkerung senden sollte – weist ebenfalls Parallelen zu den Beweggründen des Kremls auf. Dieser sah sich durch die fortschreitende Entwicklung der «verwandten» Ukraine zu einer demokratischen und zusehends westlich beeinflussten Gesellschaft herausgefordert.

Auch Russland ist ein Vielvölkerstaat, der mit Problemen kämpft – jedoch nicht im selben Ausmass, wie dies bei Österreich-Ungarn der Fall war. Russland hat seit dem Untergang der Sowjetunion zudem relativ an Gewicht verloren, auch dies ist eine Parallele zur Doppelmonarchie, die bereits vor Ausbruch des Krieges nurmehr ein Juniorpartner des Deutschen Reiches war und während des Kriegs stetig weiter an Einfluss verlor. Russland ist indes – trotz der nun in der Ukraine zutage getretenen Schwächen – militärisch ungleich potenter, als die Doppelmonarchie es jemals war: Es ist eine Atommacht.

Während die Doppelmonarchie einen militärisch und wirtschaftlich starken Partner hatte – das Deutsche Reich –, ist Russland politisch weitgehend isoliert. Das Verhältnis zu China ist keinesfalls mit dem Bündnis zwischen Berlin und Wien zu vergleichen, und Moskau hat denn auch keinen «Blankoscheck» von Peking erhalten.

... und zum Deutschen Reich

In gewisser Weise lässt sich Russland auch mit dem Deutschen Reich vergleichen. Beide Staaten, das heisst ihre Führungen, fühlten sich durch ein starkes gegnerisches Bündnis eingekreist – das Deutsche Reich durch die Entente, Russland durch die Nato. In beiden Fällen war diese «Einkreisung» zumindest teilweise selbstverschuldet; bei Deutschland durch eine zuweilen erratische, aggressive Aussenpolitik und die Aufgabe des Bismarckschen Bündnissystems, bei Russland durch revisionistische Rhetorik und Bestrebungen, ehemalige Sowjetrepubliken enger an Moskau zu binden – als Beispiele können der Georgienkrieg 2008 und die Annexion der Krim 2014 genannt werden.

Sowohl das Deutsche Reich wie auch das heutige Russland verfolgten bzw. verfolgen ausserdem eine letztlich revisionistische Politik: Russland ist augenscheinlich bestrebt, den durch den Zusammenbruch der Sowjetunion verlorenen Supermachtstatus wiederherzustellen. Es gibt das Wort des Sicherheitsberaters des ehemaligen US-Präsidenten Carter, Zbigniew Brzeziński, wonach Russland ohne die Ukraine ein grosses Land sei und Russland mit der Ukraine ein Imperium.

Das Deutsche Reich verhielt sich insofern revisionistisch, als es versuchte, die in der Phase des Imperialismus quasi vollständig unter den etablierten Kolonialmächten aufgeteilte Welt neu aufzuteilen und punkto Weltgeltung mit dem Britischen Weltreich auf Augenhöhe zu kommen. Beide Staaten, Deutschland damals wie Russland heute, legten denn auch disproportional viel Gewicht auf ihre militärische Stärke.

Im krassen Unterschied zu Russland heute war Deutschland kurz vor dem Ersten Weltkrieg jedoch ein ökonomischer Gigant, der selbst Grossbritannien wirtschaftlich überholt hatte. Und die Armee des Kaiserreichs war in der Tat stark; so sehr, dass sie während beinahe des ganzen Weltkrieges an zwei Fronten einem numerisch überlegenen Gegner standzuhalten vermochte. Die russische Armee hingegen erweist sich derzeit zumindest in einem konventionellen Krieg gegen einen deutlich schwächeren Gegner wie die Ukraine als inkompetent.

epa09913408 People walk near a destroyed tank in Kolychivka village, Chernihiv region, 27 April 2022. On 24 February, Russian troops entered Ukrainian territory in what the Russian president declared  ...
Die russische Armee hat sich bisher im Ukraine-Krieg als inkompetent erwiesen. Bild: keystone

Die Gefahr der Eskalation

Welches Eskalationspotential steckte nun in der Konstellation vom Juli 1914 und welches steckt im Krieg in der Ukraine 2022? Zuerst gilt es zu bedenken, dass es im Juli 1914 tatsächlich zu einer Eskalation kam, die im Krieg endete. Die Versuchung ist daher gross, im Rückblick eine Zwangsläufigkeit der Ereignisse zu entdecken, die damals vielleicht gar nicht in diesem Masse bestand. Demgegenüber ist die Situation heute offen und niemand weiss, wohin sie sich letztendlich entwickeln wird.

Die Rolle, die der Automatismus der Bündnisverpflichtungen 1914 spielte, ist zweifelsohne wichtig – aber sie darf auch nicht überschätzt werden. Im Grunde bestand für die Führungsgruppen in Berlin, Wien, St.Petersburg, Paris und London während dieser fünf Wochen zwischen dem Attentat in Sarajevo und dem Ausbruch des Krieges zwischen den Grossmächten mehrfach die Möglichkeit, innezuhalten und den nächsten Eskalationsschritt zu verzögern oder gar zu vermeiden. Dazu hätte man aber die diplomatischen Kanäle intensiver nutzen und länger offenhalten müssen. In der Ära der Geheimdiplomatie war dies nicht der Fall.

Das Geflecht der Bündnisse war 1914 auch komplexer, als es heute ist – heute stehen sich lediglich ein nahezu isoliertes Russland und die Nato-Staaten gegenüber, während China die Entwicklung eher von der Seitenlinie aus zu verfolgen scheint. Freilich besteht auch heute eine Art Bündnis-Automatismus, nämlich im Nato-Beistandsfall. Sollte Russland einen Nato-Staat angreifen, tritt dieser Bündnisfall laut Artikel 5 ein. Dies ist ein zweischneidiges Instrument; es wirkt eskalationsfördernd, indem es bei einem begrenzten Angriff weitere Staaten in den Konflikt zieht, aber es wirkt zugleich eskalationshemmend, indem es dadurch einen solchen begrenzten Angriff unwahrscheinlicher macht.

Nato-Osterweiterung, Beitrittskandidaten 2022
https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Osterweiterung#/media/Datei:NATO_enlargement.svg
Nato-Osterweiterung und Beitrittskandidaten 2022.
Mitgliedstaaten (dunkelblau), Beitrittskandidaten (hellblau), zugesagte Einladung (grün), kein Beitritt geplant (rot), Haltung zum Beitritt unbekannt (graubraun).
Karte: Wikimedia

Hinzu kommt, dass 1914 die militärische Spitze namentlich im Deutschen Reich politische Entscheidungen in hohem Masse beeinflusste. Die militärische Doktrin, die mit dem strategischen Problem der deutschen Mittellage zu rechnen hatte, war in Form des Schlieffen-Plans zu einem Dogma geronnen, das den politischen Handlungsspielraum massiv einschränkte. Die Doktrin verlangte, bei einem zu erwartenden Zweifrontenkrieg zuerst Frankreich in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen, bevor die russische Mobilmachung abgeschlossen war. Dies führte dazu, dass Berlin Frankreich den Krieg erklären musste, als Russland mobil machte. Ein solch rigides militärisches Korsett wie damals in Deutschland dürfte heute die politischen Entscheidungsträger weder im Westen noch in Russland zu sehr einengen.

Erster Weltkrieg Westfront Schlieffen-Plan
Der deutsche Angriffsplan 1914, basierend auf dem Schlieffen-Plan. Karte: Wikimedia

Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Julikrise 1914 und der aktuellen Situation besteht allerdings in der Tatsache, dass die Führungspersonen damals kaum wissen konnten, wie verheerend das Resultat ihrer Politik sein würde. Obwohl es bereits Hinweise gab, etwa den überaus verlustreichen Amerikanischen Bürgerkrieg, konnte keiner der Entscheidungsträger von 1914 wirklich erahnen, welch unfassbare Katastrophe seine Handlungen zur Folge haben würden. Dies ist heute anders. Das Wissen um die Folgen eines weltweiten Atomkriegs sollte heute eine Politik des leichtfertigen Vabanquespiels, wie es 1914 besonders von Österreich-Ungarn und Deutschland betrieben wurde, verbieten.

«Peace for our time»

Es gibt Begriffe, bei denen man genau angeben kann, ab wann sie ausschliesslich negativ besetzt sind. Bei «Appeasement-Politik» ist es das Jahr 1939. In diesem Jahr marschierte die Wehrmacht im März in der sogenannten Rest-Tschechei und im seit 1923 zu Litauen gehörenden Memelgebiet ein, und im September überfiel Hitlerdeutschland Polen, was den Zweiten Weltkrieg auslöste. Damit erwies sich die zuvor vornehmlich von britischer und auch französischer Seite betriebene Politik der «Befriedung» Nazi-Deutschlands, die im Münchner Abkommen 1938 ihren Zenit erreicht hatte, als Wunschgebilde.

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg war Deutschland geschwächt; das Deutsche Reich hatte durch die Bestimmungen des Versailler Vertrags etwa ein Siebtel seiner Fläche und zehn Prozent seiner Bevölkerung verloren. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 verfolgte Adolf Hitler eine – innenpolitisch weitgehend unbestrittene – revisionistische Politik, die lange mit der Duldung der durch den Krieg traumatisierten westlichen Siegermächte rechnen konnte.

Hitlers Erfolge dank Appeasement-Politik

Erste aussenpolitische Erfolge, die das Hitler-Regime dank der Appeasement-Politik erzielen und innenpolitisch ausschlachten konnte, waren die Besetzung des demilitarisierten Rheinlandes 1936 und der Anschluss Österreichs 1938. Erstere bedeutete eine Verletzung des Versailler Vertrags von 1919 und des Locarno-Pakts von 1925. Letzterer – durch eine keinesfalls freie, aber wohl dem Mehrheitswillen entsprechende Volksabstimmung sanktioniert – brach die Verträge von Versailles und Saint-Germain. Der durch diese Erfolge beflügelte Hitler beschloss noch im März 1938, als Nächstes die bereits vorgesehene Zerschlagung der Tschechoslowakei in Angriff zu nehmen. Das Instrument dafür war die Sudetenkrise.

Hitler machte sich die Tatsache zunutze, dass in den böhmischen, mährischen und schlesischen Randgebieten der Tschechoslowakei Sudetendeutsche lebten, die dem neuen, aus der Erbmasse der Doppelmonarchie hervorgegangenen, mehrheitlich slawischen Staat überwiegend negativ gegenüberstanden. Die dem Nationalsozialismus nahestehende Sudetendeutsche Partei forderte unter dem Motto «Heim ins Reich» den Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich.

Angesichts der deutschen Forderungen versuchte das mit der Tschechoslowakei verbündete Frankreich vergeblich, Grossbritannien zu einer gemeinsamen Politik zu bewegen, deren Eckpunkte darin bestanden, Prag zu Kompromissen gegenüber den Sudetendeutschen zu drängen und zugleich Berlin entschlossen entgegenzutreten. Der britische Premierminister Neville Chamberlain glaubte jedoch, Hitler plane keine Annexionen. Sowohl Frankreich wie auch Grossbritannien waren nach wie vor kriegsmüde und militärisch unzureichend gerüstet.

Während sich die Krise weiter zuspitzte und Hitler immer unverhohlener mit Krieg drohte, übernahmen die Briten die Initiative bei der Suche nach einer diplomatischen Lösung. Ihre Bemühungen führten zur Münchner Konferenz im September 1938, an der neben Deutschland und Grossbritannien auch Frankreich und Italien teilnahmen – nicht aber die Tschechoslowakei, die gar nicht eingeladen wurde. Die Viermächtekonferenz endete mit dem Münchner Abkommen, das die Abtretung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich vorsah und der Tschechoslowakei für ihr restliches Territorium eine internationale Garantie in Aussicht stellte.

Die am 29. September 1938 in Muenchen versammelten Staatsmaenner, nach der Unterzeichnung des Muenchner-Abkommens; von links nach rechts, der englische Premierminister Arthur Neville Chamberlain, der  ...
Nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens am 29. September: der englische Premierminister Neville Chamberlain, der französische Regierungschef Edouard Daladier, Adolf Hitler, Benito Mussolini und der italienische Aussenminister Galeazzo Ciano (v. l. n. r.).Bild: Keystone

Ein Krieg in Europa war damit noch einmal abgewendet worden; Chamberlain sprach nach seiner Rückkehr nach London die berühmten Worte: «Peace for our time» («Frieden für unsere Zeit»). Die deutsche Wehrmacht konnte das Sudetenland kampflos besetzen. Sämtliche Forderungen Hitlers waren erfüllt worden; der Diktator gab an, damit gebe es keine territorialen Forderungen gegenüber der Tschechoslowakei mehr. Mit dem Münchner Abkommen hatte die Appeasement-Politik ihren Höhepunkt erreicht. Von nun an rückten Frankreich und Grossbritannien enger zusammen und verstärkten ihre Rüstungsanstrengungen.

British Premier Neville Chamberlain, who left Munich by air after his successful peace saving effort in conjunction with the French, German and Italian heads of state, saw Hitler, Sept. 30, 1938 and t ...
Chamberlain winkt nach seiner Landung in London mit dem unterzeichneten Abkommen. Es sollte bald Makulatur sein. Bild: Keystone

Der Anschluss des Sudetenlandes verschaffte Hitlerdeutschland militärische Vorteile: Die starken tschechischen Grenzbefestigungen, die für die Wehrmacht nahezu unüberwindbar gewesen wären, lagen nun auf deutschem Gebiet. Mit der Besetzung des restlichen Tschechiens geriet dann auch die bedeutende tschechische Rüstungsindustrie unter deutsche Kontrolle, dazu grosse Vorräte an Waffen, Munition und Rohstoffen. Nicht zuletzt hätte ausserdem eine unbesetzte Tschechoslowakei im Falle eines Kriegs für Deutschland einen schweren strategischen Nachteil dargestellt.

Parallelen zu Putins Vorgehen

Es kommt nicht von ungefähr, dass zahlreiche Beobachter Parallelen zwischen der Appeasement-Politik gegenüber Hitlerdeutschland und den westlichen Reaktionen auf das russische Vorgehen gegen die Ukraine sehen. Russland konnte 2014 die Krim annektieren und militärisch die Separatisten im Donbass unterstützen, ohne dass der Westen mehr als vergleichsweise milde Sanktionen verhängte. Die Einverleibung der Krim verschaffte Putin übrigens innenpolitisch einen Popularitätsschub wie Hitler beim Anschluss Österreichs; beide liessen ihre Annexionen durch eine Volksabstimmung absegnen.

Die Destabilisierung der Ukraine auch mittels einer von aussen unterstützten separatistischen Miliz erinnert an die deutsche Instrumentalisierung der sudetendeutschen Nationalisten. In beiden Fällen wurde als Grund für die Einmischung die Drangsalierung einer Minderheit des eigenen Volkes im Nachbarland vorgeschoben – Putin sprach in diesem Zusammenhang sogar von «Genozid».

Die seit dem Einmarsch in die Ukraine von Putin und der russischen Propaganda geäusserten Drohungen einer möglichen Eskalation finden ihr historisches Echo in den Kriegsdrohungen Hitlers im Vorfeld der Münchner Konferenz. Die eher hilflosen Versuche der Westmächte, die Tschechoslowakei zu unterstützen – das stärkste Signal war hier eine französische Teilmobilmachung –, bezeichnete Hitler seinerseits als Kriegsdrohung. Auch hier ähnelt Putins Rhetorik jener des deutschen Diktators; er hat die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine sogar als Kriegseintritt bezeichnet.

Eine weitere Parallele besteht in der historischen Begründung des Anspruchs auf das Nachbarland. Wie der deutsche Historiker Heinrich August Winkler in der «Zeit» schreibt, berief sich Hitler auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise «auf den besonderen Rang des ‹alten deutschen Reiches›, also des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, zu dem jahrhundertelang auch Böhmen und Mähren gehört hatten.» Putin wiederum habe im Bemühen, die Wiederherstellung des einstigen russischen Grossreichs historisch zu untermauern, von den drei Zweigen der Alten Rus – den Grossrussen, Kleinrussen (Ukrainern) und Belarussen – als einem dreieinigen Volk gesprochen.

Der Versuch, vergangene Grösse wiederzugewinnen, ist denn auch ein weiterer gemeinsamer Nenner zwischen dem «Dritten Reich» und dem heutigen Russland. Weit mehr noch als das Wilhelminische Kaiserreich verfolgte Nazideutschland eine aggressive revisionistische Politik – zunächst die Revision des Versailler Vertrags, auf längere Frist die Revision der Machtverhältnisse unter den Grossmächten. Im Gegensatz zum Kaiserreich war das «Dritte Reich» zu Beginn allerdings in einer schwächeren Position, sowohl militärisch wie auch wirtschaftlich. Russlands Revisionismus zielt auf die Wiederherstellung der imperialen Stellung des Zarenreichs und der Sowjetunion.

Russisches Kaiserreich 1865
Von Diese W3C-unbestimmte Vektorgrafik wurde mit Inkscape erstellt. - Diese Datei enthält Elemente, die von folgender Datei entnommen oder adaptiert wurden:, CC BY-SA 3.0,  ...
Grösser als Russland, grösser als die Sowjetunion: das russische Zarenreich um 1865. Karte: Wikimedia

Putin ist nicht Hitler

Gerade weil die Parallelen zwischen Nazideutschland 1938 und Russland 2022 derart ins Auge springen, gilt es umso mehr, die Unterschiede zu beachten. Trotz des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs in der Ukraine und den dort begangenen Kriegsverbrechen ist Russland nicht das «Dritte Reich», ist Putin nicht Hitler. Die zutiefst verbrecherische Natur des Nazi-Regimes war bereits vor Ausbruch des Krieges deutlich zutage getreten, und sie sollte sich danach noch in einen exterminatorischen Furor steigern.

Eingangstor KZ-Dachau
Das Eingangstor zum Konzentrationslager Dachau.

Hitler war vom Ergebnis des Münchner Abkommens enttäuscht, weil er eigentlich den Krieg gewollt hatte; den Krieg, den er zur Verwirklichung seiner so weitgespannten wie verbrecherischen Ziele benötigte. Er bekam ihn wenig später doch noch. Putin hat leichtfertig einen Krieg vom Zaun gerissen, doch das anhaltende Gemetzel in der Ukraine dürfte kaum das sein, was er sich erhofft hat – vermutlich dachte er an eine kurze und schnelle Intervention ohne grosse Verluste.

Hitlers fanatische Entschlossenheit zum Krieg bedeutet freilich auch, dass die Westmächte – hätten sie keine Politik der Beschwichtigung betrieben – diesen Krieg wohl ohnehin nicht hätten verhindern können. Sie hätten ihn allerdings ausfechten können, als das «Dritte Reich» militärisch noch schwächer war, auch wenn sie selber ebenfalls noch ungenügend gerüstet waren. Putin hingegen scheint nicht wie Hitler einen Krieg um jeden Preis zu wollen. Ein bestimmteres Auftreten des Westens nach der Annexion der Krim hätte daher seinen Einmarsch in der Ukraine wohl verhindern können.

Der Vergleich zwischen dem russischen Vorgehen in der Ukraine und der Julikrise vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs einerseits sowie dem Münchner Abkommen und der Zerschlagung der Tschechoslowakei andererseits zeigt, dass es in beiden Fällen Parallelen gibt. Im letzteren Fall sind sie allerdings viel offensichtlicher. Die Lehren, die sich bei aller Vorsicht aus diesen beiden historischen Vorgängen in Hinsicht auf die Gefahr einer Eskalation im Ukraine-Krieg ziehen lassen, könnten in zwei Empfehlungen zusammengefasst werden:

  • Aus dem Fehlschlag der Appeasement-Politik vor dem Zweiten Weltkrieg folgt die Notwendigkeit einer klaren und mit Konsequenzen bewehrten Politik, die deutliche rote Linien zieht und auf deren Überschreitung entschlossen reagiert.
  • Aus der kurzsichtigen Politik der Eskalationen und leichtfertigen Kriegserklärungen vor dem Ersten Weltkrieg folgt die Notwendigkeit, die Gesprächskanäle so offen wie möglich zu halten, selbst wenn der Gesprächspartner sich selbst moralisch diskreditiert hat.

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Ukraine-Krieg: die Akteure im Überblick
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Ukraine-Krieg: die Akteure im Überblick
Durch Russlands Angriff auf die Ukraine in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar, ist die jahrelange Ukraine-Krise von einem blossen Konflikt zum Krieg geworden. Wer die wichtigsten Beteiligten sind, erfährst du hier:

Wladimir Putin ist seit 2000 (mit Unterbrechung von 2008 bis 2012) Präsident von Russland. Er sieht die Stabilität seines Systems seit den frühen Jahren seiner Präsidentschaft durch den Westen bedroht und will verhindern, dass die Ukraine Nato-Mitglied wird und eine westlich orientierte Demokratie aufbaut. Am 24. Februar befahl Putin schliesslich den Angriff auf die Ukraine. Offizielle Leitmotive für den Krieg sind die «Demilitarisierung und Entnazifizierung».
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Auszüge von Putins Rede im O-Ton
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121 Kommentare
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Mirowsky
07.05.2022 15:16registriert September 2017
Sorry den Ausdruck aber verdammt nochmal müssen wir uns alles gefallen nur damit dieser Idiot nicht Beleidigt ist. Macht was er will und macht auf beleidigte Leberwurst….. und hier gibt es Stimmen die dem Handeln noch zustimmen… Pfui Schämt euch
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Cpt. Jeppesen
07.05.2022 14:54registriert Juni 2018
Der Fehler war, wie im Artikel richtig beschrieben, die schwache und uneinheitliche Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim. Spätestens aber mit dem Abschuss des Malaysia Passagierjets hätte der Westen der Ukraine offensiv Beistand leisten müssen. Stattdessen aber haben sich nicht wenige deutschsprachige Medien erblödet Russland und sein imperiales Streben damit zu begründen, das gehört ja eh alles zusammen und überhaupt sind die alle korrupt.
Ich kenne nicht wenige, die heute noch behaupten, die Maidan-Revolutzion war von den USA inszeniert und Selinskyi ist eine Marionette.
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Päule Freundt
07.05.2022 16:40registriert März 2022
Die Frage im Titel („Soll man Putin nicht reizen?“) mag berechtigt sein, aber wichtiger ist, dass dem Mann aus dem Bunker ‘endlich’ Grenzen gesetzt werden. 2014 hatte Präsident Obama dazu einfach nicht den Mut (weder auf der Krim, noch in Syrien). Er ließ die (, wie er sagte) ‘Regionalmacht’ gewähren.

Mit Putin kann man weder verhandeln, noch soll man sich durch Appeasement-Politik von ihm auf der Nase herumtanzen lassen. Im Gegenteil man muss dem russischen Bären endlich mal tüchtig eins auf die Schnauze hauen. Die Ukrainer haben dazu den Mut, jedoch bezahlen sie dafür einen hohen Preis.
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