Carla Del Ponte fährt in einem sportlichen Auto vor. Weiss lackiert wie die Wagen eines UNO-Konvois. Kaum angekommen, klagt die 72-Jährige über Rückenschmerzen. Sie habe zu viel Golf gespielt. Als Treffpunkt hat sie das Hotel Belvedere in Locarno gewählt, wo die Filmstars während des Festivals absteigen. Der Hoteldirektor begrüsst sie überschwänglich. Del Ponte strahlt und setzt sich auf ein Sofa. Ihr Lächeln verschwindet, sobald es um den Krieg geht.
Sie sind das Gesicht der internationalen Strafverfolgung von Kriegsverbrechern. Welchen Ausdruck hat dieses Gesicht zurzeit?
Carla Del Ponte: Einen sehr traurigen. Wir hatten uns gedacht, dass nach den Tribunalen in Jugoslawien und Ruanda weniger Kriegsverbrechen geschehen würden. Wir stellten uns vor, dass Generäle und Präsidenten sich zurückhalten würden, weil es nun einen permanenten Gerichtshof gibt, der ihnen auf die Finger schaut. Doch internationale Justiz funktioniert nur, wenn der politische Wille da ist. Dieser ist verschwunden. Das gilt für Syrien, aber auch für Jemen und Afghanistan. Zum Glück bin ich nicht mehr tätig, ich würde mich sonst die ganze Zeit ärgern.
Haben Sie noch Kontakt zu Opfern des Syrien-Konfliktes?
Nein, aber ich erinnere mich noch gut an die jungen kurdischen Kämpferinnen, die ich im Irak kennen gelernt habe. Die Kurdinnen sind gefürchtet, weil ihre islamistischen Gegner glauben, dass sie nicht ins Paradies kämen, wenn sie von einer Frau getötet werden. Ich erinnere mich an den Mut dieser jungen Frauen. Und es tut mir wirklich leid, dass so viele von ihnen gestorben sind. Was jetzt geschieht in Syrien, ist skandalös. Dass Präsident Erdogan sich erlaubt, auf syrisches Territorium einzudringen, um die Kurden zu vernichten, ist unglaublich.
Die Türkei stellt sich auf den Standpunkt, sie wolle nur die eigenen Grenzen schützen.
Niemand hat die Grenze der Türkei zu Syrien je infrage gestellt. An der Grenze geschieht nichts dergleichen. Das ist eine dumme Entschuldigung, die niemand glaubt. Die Türkei verletzt internationales Recht. Dabei waren wir in Syrien nahe an einer Beruhigung des Konfliktes, und jetzt fängt alles wieder von vorne an.
Erdogan sagt, es sei keine Invasion, sondern eine Operation zur Sicherung des Friedens.
Nennen Sie es, wie Sie wollen. Wenn ein Staat Kriegshandlungen im Territorium eines anderen Staates durchführt, ist das eine Verletzung internationalen Rechts. Es ist eine Schande, dass die internationale Gemeinschaft dies duldet. Die Erklärung dafür liegt in der Politik. Europa hat Angst vor einer Flüchtlingswelle. Erdogan hat die Flüchtlinge als Faustpfand. Darum lässt Europa ihn gewähren.
Kann man eigentlich im Kriegschaos in Syrien noch zwischen Tätern und Opfern unterscheiden?
Sicher. Die Kurden haben zwar auch Kriegsverbrechen begangen im Kampf gegen die Terrororganisation IS. Meine Erfahrung ist, dass alle Kriegsparteien früher oder später Kriegsverbrechen begehen. Aber in diesem bestimmten Fall sind die Kurden oder besser die Kurdinnen die Opfer von Erdogan. Man sollte auch gegen ihn eine Untersuchung eröffnen und ihn wegen Kriegsverbrechen anklagen. Er sollte nicht ungeschoren davonkommen. Aber sprechen wir nicht darüber. Es ist sowieso unrealistisch.
Für Sie sind die Kurdinnen die Heldinnen dieses Konflikts und Erdogan der Bösewicht. Ist es wirklich so einfach?
Ja, natürlich. Solange man die Kurden gebraucht hat, um den IS zu bekämpfen, hat man sie unterstützt, und Erdogan musste ruhig bleiben. Und nun, da Trump seine Truppen abgezogen hat, werden die Kurden ans Messer geliefert.
Sie haben viele syrische Flüchtlinge kennen gelernt. Nimmt die Schweiz genügend auf?
Die Schweiz sollte so viel wie möglich tun, um syrischen Flüchtlingen zu helfen. Und ich garantiere Ihnen: Die Syrer wollen so schnell wie möglich wieder zurück nach Hause. Sie sind also nur vorübergehend schutzbedürftig. Wichtig ist, dass der Bundesrat für die Syrien-Frage sensibilisiert wird. Da könnte man schon etwas mehr tun.
Soll die Schweiz Dschihadisten mit Schweizer Pass zurückholen?
Wer einen Schweizer Pass hat, der kann in die Schweiz zurückkehren. Aus meiner Sicht ist es am besten, wenn wir die Dschihadisten aktiv zurückholen und sie hier vor Gericht stellen. Denn es ist wichtig, dass man die Fakten kennt und von jedem weiss, warum er in den Krieg gezogen ist. Nur so können wir von diesen Fällen lernen. Ich verstehe nicht, warum Justizministerin Karin Keller-Sutter dies ablehnt. Die Strafverfolger können ohne weiteres diese Leute anklagen.
Bundesrätin Keller-Sutter wollte, dass die Täter am Tatort vor ein internationales Gericht kommen.
Ma che?! Welches Gericht denn? Es existiert keines. Es gibt allerhöchstens ein Scharia-Gericht ohne rechtsstaatliche Garantien. Zudem ist es besser, wenn wir die Leute kontrolliert zurückholen, als wenn diese Leute unkontrolliert einreisen können. Das ist gefährlicher.
Haben Sie noch Hoffnung, dass die Täter der Massaker in Syrien je vor ein Gericht gestellt werden?
Diese Hoffnung habe ich noch. Aber je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es. Syrien droht, vergessen zu gehen. Die Kommission, für die ich einst arbeitete, existiert noch, und ich hoffe, dass ihre Arbeit einmal Früchte tragen wird.
Lesen Sie die Syrien-Berichte Ihrer ehemaligen Kollegen noch?
Nein, nicht mehr. Am Anfang tat ich das noch, irgendwann habe ich aufgehört. Ich wusste jeweils schon vorher, was drinsteht. Es ist eine Liste begangener Verbrechen, die wir schon aus der Zeitung kennen.
Haben Sie es nie bereut, dass Sie diese Arbeit aufgegeben haben?
Nein. Wenn ich etwas bereue, dann, dass ich mich überhaupt für diese Kommission zur Verfügung gestellt habe. Es hat nichts gebracht, und ich habe mich nur geärgert.
Spielte Eitelkeit eine Rolle, als Sie das Syrien-Mandat annahmen?
Nein. Die Schweizer Regierung hat mich vorgeschlagen, weil ich die einzige Person war, die Erfahrung in diesem Bereich hatte. Ich konnte nicht nein sagen. Und ich möchte noch unterstreichen, dass ich für diese Arbeit nicht bezahlt wurde. Ich bekam zwar Spesen bezahlt, aber die deckten nicht immer die tatsächlichen Ausgaben.
Sie untersuchten Kriegsverbrechen in Ruanda, Jugoslawien und Syrien. Gibt es eine Entwicklung?
Die zivilen Opfer werden grösser, und die Genfer Konvention wird häufiger missachtet. Es wird immer schlimmer.
Ist der Syrien-Krieg wirklich brutaler als Ruanda?
In Ruanda wurden innert kurzer Zeit 800'000 Personen mit Macheten getötet. Das ist unglaublich grausam. In Syrien besteht die Grausamkeit im Einsatz des Giftgases Sarin, das auch Kinder und Zivilisten getötet hat.
Gibt es überhaupt einen Krieg ohne Verbrechen?
Ich habe keinen solchen Krieg je erlebt. Die Genfer Konvention und die Verfolgung von Verstössen sollte eine präventive Wirkung haben auf kriegführende Parteien. Aber im Moment passiert dies nicht.
Sie haben Kriegsverbrecher gejagt, aber nur kleine Fische erwischt.
Nein, das sehe ich nicht so. Gut, Milosevic ist gestorben, bevor ein Urteil gesprochen war, und andere begingen Suizid. Natürlich konnten wir darum nicht alle grossen Fische fangen, aber wir sind nicht auf die kleinen los. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Uns lag der Funkverkehr eines Nato-Piloten vor, der im Jugoslawien-Krieg Zivilisten bombardiert hat. Bevor er abdrückte, funkte er aus dem Cockpit: «Aber es sind Zivilisten!» Dennoch erhielt er den Abschussbefehl. Wir ermittelten nicht gegen den Piloten, weil er nur der Ausführende war. Wir versuchten, seine Vorgesetzten, die Befehlsgeber, zu ermitteln, aber die Nato hat nicht mit uns kooperiert. Sie liessen mich nicht ermitteln. Ich war vorher im Pentagon ein gern gesehener Gast. Aber nachdem ich wegen dieses Bombardements zu ermitteln versucht hatte, war ich dort Persona non grata.
Wir möchten noch über Ihre Zeit als Bundesanwältin sprechen. Bisher gab es keinen Bundesanwalt, dessen Amtszeit als Erfolg gewertet wurde. Woran liegt das?
Sie sagen es falsch: Ich hatte Erfolg trotz aller Schwierigkeiten.
Sie haben viele grosse Ankündigungen gemacht, aber am Schluss blieb jeweils wenig davon übrig. Worin liegt Erfolg?
Wenn man arbeitet und nicht einfach dort sitzt und Politik macht. Man muss unabhängig sein. Das war ich. Natürlich konnte ich nicht alle meine Ermittlungen mit Erfolg beenden. Aber das gehört dazu. Einige Fälle habe ich durchgebracht, sogar vor Bundesgericht. Natürlich: Die Journalisten waren böse auf mich, weil ich bei einem Journalisten eine Hausdurchsuchung gemacht habe.
Das war ein Fehler.
Absolut nicht, aber lassen wir das. Für mich persönlich war die Zeit als Bundesanwältin eine sehr gute Erfahrung. Die Geldwäscherei-Gesetze habe ich durchgebracht zusammen mit den Kommissionen der Parlamente. Die Reorganisation der Bundesanwaltschaft habe ich angefangen, aber nicht zu Ende geführt, weil ich weg musste nach Den Haag.
Finden Sie es gut, dass der Bundesanwalt heute vom Parlament gewählt wird und nicht wie damals bei Ihnen vom Bundesrat?
Nein. Heute geht es bei der Wahl mehr um Politik als um Fähigkeiten.
Der aktuelle Bundesanwalt Michael Lauber hat sich mit Fifa-Boss Gianni Infantino getroffen, ohne ein Protokoll abzulegen, nicht einmal in seinem Gedächtnis. Hatten Sie jemals informelle Treffen mit Leuten, die in Strafverfahren involviert waren?
Nein. Alle meine Treffen haben in meinem Büro der Bundesanwaltschaft stattgefunden. Ich hatte ein schönes Büro, die Leute sollten zu mir kommen. Ich habe sie nie in einem Restaurant oder so getroffen. Und ich habe auch immer alles protokolliert. Über Lauber möchte ich aber nicht sprechen.
Sie haben Karriere gemacht und haben Familie. Was raten Sie einer jungen Familie, die auch beruflich erfolgreich sein will?
Aus meiner Erfahrung weiss ich: Man kann nicht Karriere machen und eine gute Mutter sein.
Waren Sie also eine schlechte Mutter?
Ja, ich war eine schlechte Mutter. Aber meine Mutter war ein guter Ersatz für meinen Sohn. Er ist zufrieden mit seiner Kindheit – dank seiner Nonna.
Wenn Sie jetzt auf dem Golfplatz stehen und auf Ihr Leben zurückblicken: Hätten Sie lieber mehr Zeit mit Ihrer Familie verbracht?
Nein. Man muss sich anpassen an die Situationen. Unter den gegebenen Umständen muss ich sagen: Es hat alles sehr gut geklappt. Ich hätte ja nie gedacht, dass ich Karriere mache. Ich dachte, ich mache eine grosse Familie. Aber es kam anders.
Am Frauenstreik demonstrierten Hunderttausende Frauen. Sie kritisieren auch, dass nicht beides möglich sei, Familie und Karriere.
Ja, es ist nicht leicht, das zu vereinbaren. Aber das Thema interessiert mich nicht. Es ist ein ewiges Problem. Das sollen andere lösen. Oft ist es auch so, dass sich die Frauen beklagen, dass sie in der Politik untervertreten seien. Aber wenn es darauf ankommt, kandidieren sie nicht.
Am Wahlsonntag hatten viele Frauen Erfolg. Haben Sie gewählt und die grüne Welle unterstützt?
Ich habe gewählt, aber nicht grün. Doch ich bin froh, dass die grüne Welle da ist. Sie ist frisch und neu. Ein bisschen Change. Mal schauen, was in ein paar Jahren davon übrig ist.
Sie hatten jetzt ein Jahr Pause gemacht mit öffentlichen Auftritten. Was haben Sie noch vor?
Jetzt schreibe ich gerade ein Vorwort für ein Buch eines neapolitanischen Staatsanwalts, der gegen die Camorra gekämpft hat. Und dann werde ich vielleicht noch einen Bericht für den internationalen Gerichtshof in Den Haag schreiben, aber darüber kann ich noch nicht sprechen.
Sie standen vor Massengräbern und haben unvorstellbare Verbrechen gesehen. Wie konnten Sie da noch ruhig schlafen?
Das war für mich keine Frage. Ich stand ja auch nicht von einem Tag auf den anderen plötzlich vor einem Massengrab. Zuerst war ich Staatsanwältin in Lugano. Dort habe ich die ersten Todesfälle gesehen. Frauen, die getötet worden sind. Erstaunlicherweise hat mich das nicht gestört, und ich konnte trotzdem schlafen. Dann sind die Leichen zahlreicher geworden. Schliesslich waren es 600, die seit drei Jahren in einem Massengrab lagen. Manchmal war ich sehr frustriert, und manchmal habe ich gedacht, ich höre auf. Ich war müde und erschöpft. Aber dann habe ich immer gesagt, zuerst schlafe ich eine Nacht darüber. Dann bin ich am Morgen jeweils voller Energie wieder aufgestanden. Das ist das Wichtigste: Man muss gut schlafen können. Albträume hatte ich nie.
Haben all diese Verbrechen Ihren Charakter verändert?
Nein, ich glaube nicht. Die Leute stellen sich vor, ich sei hart geworden. Aber wenn sie mich kennen, sagen sie zu mir: «Sie sind ja ganz normal.» Das stimmt.
Nicht falsch verstehen, es sollte jeder für seine Taten gerade stehen, aber ernst nehmen kann die das UN Tribunal nicht, solange nicht alle gleich behandelt werden.