Genf als «Brennpunkt der Spionage»: FBI und MI5 warnen vor chinesischen Aktivitäten
In der Welt der Geheimdienste scheut man normalerweise den grossen Auftritt. Umso bemerkenswerter war es, als Anfang Juli der Chef des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5, Ken McCallum, und sein Amtskollege aus den USA, FBI-Direktor Christopher Wray, gemeinsam in London auftraten. In eindringlichen Worten warnten sie vor der weltweiten Gefahr, welche von der «zunehmend autoritär agierenden» Kommunistischen Partei Chinas ausgehe, der Machthaberin in der Volksrepublik.
MI5-Chef McCallum sagte, Industriespionage sowie westliche Universitäten stünden besonders im Fokus Chinas. Heuer führt der britische Inlandgeheimdienst sieben Mal so viele Untersuchungen mit China-Bezug durch wie noch 2018. Das FBI eröffnet pro Tag zwei neue Untersuchungen wegen chinesischer Aktivitäten.
China stelle nicht nur für Grossbritannien und die USA «die grösste Langzeitbedrohung für die Wirtschaft und unsere nationale Sicherheit» dar, sagte FBI-Direktor Wray, sondern auch «für unsere Verbündeten in Europa und im Rest der Welt».
«Chinesen in Genf in erheblichem Masse aktiv»
Dazu gehört auch die Schweiz. Und auch hier sind Chinas Nachrichtendienste im Auftrag ihrer Regierung tätig. Am aktivsten sind sie in Genf als Sitz der UNO und zahlreicher weiterer internationaler Organisationen und NGOs. In seinem jüngsten Lagebericht vom Juni 2022 bezeichnete der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) die Stadt als «Brennpunkt der Spionage».
In jüngster Zeit haben laut NDB verschiedene Staaten in Genf «ihre nachrichtendienstlichen Strukturen ausgebaut». Dies habe auch mit der «verstärkten Konkurrenz der Grossmächte» zu tun, wozu der NDB die USA, Russland und China zählt. Gemäss dem Dienst dürften sich die Spionageaktivitäten in Genf zukünftig noch intensivieren.
Detaillierte Fragen von CH Media zu chinesischen Nachrichtendienstaktivitäten in der Schweiz beantwortet der NDB nicht. Ebenso wenig verrät der Schweizer Geheimdienst, wie er die Warnungen von FBI und MI5 einschätzt: «Grundsätzlich kommentiert der NDB keine Erklärungen von Geheimdiensten aus Drittstaaten», schreibt Mediensprecherin Carole Wälti. Die Spionageaktivitäten seien seit langer Zeit ein Hauptfokus des Dienstes:
Deutlicher wird der deutsche Geheimdienstexperte und Publizist Erich Schmidt-Eenboom. «Die Chinesen sind in Genf in erheblichem Masse nachrichtendienstlich aktiv», sagt er am Telefon zu CH Media. Gemäss Schmidt-Eenboom hat China nach Russland und den USA von allen Staaten am drittmeisten als Diplomaten getarnte Nachrichtendienstoffiziere in der Rhonestadt stationiert.
In ihrem Fokus stünden vor allem die UNO und die Welthandelsorganisation WTO und die Überwachung und Unterwanderung von regimekritischen Oppositionellen und NGOs. Darüber hinaus seien die chinesischen Nachrichtendienste schon immer «sehr aktiv darin gewesen, die wirtschaftlichen Interessen ihres Landes im Ausland zu unterstützen.»
«Der NDB kennt seine Pappenheimer»
Diese Einschätzung scheint man beim Nachrichtendienst zu teilen. Zumindest verweist Sprecherin Carole Wälti auf eine Passage aus dem letztjährigen NDB-Lagebericht.
China nutze «einen erheblichen Teil seiner nachrichtendienstlichen Mittel dazu, im In- und Ausland sowohl Wirtschaftsakteure als auch als Bedrohung wahrgenommene Gemeinschaften und Personen aufzuklären», heisst es dort im Fachjargon. Zusätzlich verweist Wälti auf einen siebenseitigen China-Schwerpunkt aus dem NDB-Lagebericht von 2016. Dort ist von der verstärkten «wirtschaftlichen und ideologischen Einflussnahme» Chinas in der Schweiz die Rede.
Der NDB verrät nicht, ob die Schweiz in jüngster Vergangenheit chinesische Diplomaten aufgrund ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Landes verwiesen hat. Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Enboom bezeichnet solche Massnahmen als «zweischneidiges Schwert». Einerseits hätten sie aggressive Gegenmassnahmen zur Folge.
Andererseits sei aus Sicht der Spionageabwehr oft vorteilhafter, die Anwesenheit von bekannten Nachrichtendienstoffizieren im eigenen Land zu tolerieren, deren Vorgehensweise und deren Netzwerke man zumindest teilweise kenne:
Weise man sie aus, schicke China einfach neue als Diplomaten getarnte Agenten und für den NDB beginne die Arbeit von vorne, sagt Schmidt-Enboom.
