Die Studierendenproteste sind in Serbien zu einer Massenbewegung geworden, die am Wochenende ihren bisherigen Höhepunkt erreichte. Über 300'000 Menschen versammelten sich in der Hauptstadt Belgrad, um für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit und gegen Korruption und die autoritäre Regierung von Präsident Aleksandar Vucic zu protestieren.
Diese begegnete dem Menschenaufmarsch mit einem extrem grossen Polizeiaufgebot rund um die Demo – offiziell zum Schutz der Teilnehmenden. Doch Kritiker werfen Vucic vor, die Menschen damit vor allem einschüchtern gewollt zu haben.
Diese Kritik erhält nun neuen Nährstoff: In den sozialen Medien kursieren zahlreiche Videos, die eine verstörende Szene zeigen. Urplötzlich stieben Tausende Menschen schreiend auseinander, ohne wirklich ersichtlichen Grund. Der Vorwurf an die Polizei: Sie soll mit einer LRAD-Schallkanone, einer akustischen Waffe (siehe unten), auf die protestierende Menge gezielt haben, wie unter anderem das Portal BalkanEU schreibt.
Dies just während der Schweige-Viertelstunde, die der Protestzug für 15 bei einem Dacheinsturz eines Bahnhofs Verstorbene abhielt, was der ursprüngliche Auslöser für die grossangelegte Kundgebung war. Videos zeigen, wie die Menschen, zuvor still und ruhig dastehend, plötzlich anfangen zu schreien und panikartig auseinander rennen.
Ein Augenzeuge berichtete gegenüber der Bild, sie hätten ein nicht identifizierbares Geräusch gehört, das über die Menschen «hinweggerollt» sei:
Tatjana Ohm, Journalistin bei der deutschen Zeitung WELT, war beim Vorfall anwesend. Sie schilderte ihre Erfahrung auf X. Auch sie berichtet von einem Geräusch, das sie «nicht richtig einordnen» konnte. Nach dem Vorfall sei ihr 30 Minuten schwindlig gewesen, zudem habe sie eine innere Unruhe gespürt.
Viele Protestteilnehmer vermuten hinter dem sonderbaren Geräusch den Einsatz eines sogenannten Long Range Acoustic Device (kurz LRAD). Das ist eine Art Schallkanonen, die einen gezielten Strahl von hochfrequenten Geräuschen von bis zu 160 Dezibel abgeben kann.
Für das menschliche Gehör können bereits Lautstärken ab 85 Dezibel schädlich sein, ab 120 Dezibel sind Hörschäden schon innert kurzer Beschallungszeit wahrscheinlich. LRAD-Geräte sind nicht tödlich und werden als effektive Variante, um Menschenmengen zu kontrollieren oder aufzulösen, angepriesen. Ihr Einsatz ist ethisch hochumstritten.
Die Proteste in Belgrad waren trotz des immensen Menschenaufmarschs friedlich. Die Studierendenbewegung legt grossen Wert darauf, sich von jeglichen Krawallen oder Ausschreitungen zu distanzieren und diese im Keim zu ersticken. Unterstützer der Proteste werfen Serbiens rechtspopulistischer Regierung vor, dass die Kundgebung «zu friedlich» war. Mit dem Einsatz der Schallkanone hätte die Polizei Chaos stiften und Ausschreitungen provozieren wollen, so ein vielfach geäusserter Vorwurf.
Serbiens Präsident Vucic hat die Berichte als «Lüge» zurückgewiesen. Ein Anti-Drohnen-Gewehr habe für die Panik unter den Menschen gesorgt. Den angeblichen Einsatz einer Schallkanone bezeichnet er als «brutale Desinformation». Jemand müsse für die Verbreitung dieser Berichte zur Verantwortung gezogen werden.
Gegen Vucics Darstellung spricht Videomaterial von der Szene. Darauf ist auch zu sehen, wie Polizisten kurz vor dem Ausbruch der Panik den Protestzug verlassen und in eine Nebenstrasse rennen – als ob sie gewusst hätten, was demnächst passiert.
Hier eine Unschuldsvermutung zu äussern würde an Ironie grenzen.