Zweijährige wird in Nepal zur Göttin gekürt – bis sie menstruiert
Wenn die Kindgöttin von Kathmandu weint, so verkündet sie einen bevorstehenden Tod. 2001 etwa weinte die sechsjährige Chanira Bajracharya zwanzig Tage lang. Am letzten Tag ihrer Tränen tötete der Kronprinz von Nepal neun Familienmitglieder, darunter den König und die Königin, dann erschoss er sich selbst. Chaniras Göttinnen-Amt endete, als sie mit 15 Jahren zum ersten Mal menstruierte.
Heute ist sie Geschäftsfrau in Nepal und setzt sich dafür ein, dass ihre Nachfolgerinnen genügend Schulbildung erhalten, um nach ihrer Zeit im Tempel den Anschluss ans Alltagsleben zu finden. «Die Leute dachten früher, weil sie eine Göttin ist, weiss sie alles», sagte sie in einem Interview mit der New York Times, «und wer würde es wagen, eine Göttin zu belehren?» Schon ihre Tante war eine Kindgöttin.
Wenn die Kindgöttin lacht, kündet sich eine nationale Krise an. Wenn sie zittert, ein Krieg oder Unruhen. Wenn sie Gaben der Gläubigen auswählt, eine Hungersnot. Nur wenn sie ganz still dasitzt, bedeutet dies Frieden.
Am 30. September wurde die neue Kindgöttin inthronisiert. Sie heisst Aryatara Shakya und ist zwei Jahre alt. Bis zu ihrer ersten Menstruation wird sie stark geschminkt und geschmückt im Kumari Ghar Tempel in Kathmandu sitzen, wird von den Gläubigen in einer goldenen Sänfte getragen werden und wenn sie ausserhalb des Tempels einen Schritt tut, dann nur auf Tüchern, die vor ihr entrollt werden. Denn der Boden, den alle betreten, ist zu unrein für das heilige Mädchen. Ihre Eltern sieht sie während all dieser Jahre nur einmal die Woche und dann meist nur im Tempel, wo sie sich ihr nicht liebevoll nähern dürfen. Aryatara darf ihre Residenz nur an 19 Feiertagen im Jahr verlassen.
Aryatara Shakya ist jetzt eine Kumari, so heissen die Kindgöttinnen, die seit dem 17. Jahrhundert verehrt werden. Es gibt eine Vollzeitgöttin wie Aryatara und weitere Teilzeitgöttinnen. Die Auserwählte muss zur buddhistischen Shakya-Kaste (sie setzt sich traditionsgemäss aus Gold- und Silberschmieden zusammen) der Newar im Kathmandu-Tal gehören. Ist sie einmal auserwählt, so wird das nackte Kleinkind von Priestern auf 32 Perfektionsmerkmale hin untersucht. Dazu gehören: ein Hals wie eine Muschelschale, ein Körper wie ein Banyanbaum, Wimpern wie eine Kuh, Schenkel wie ein Reh, eine Brust wie ein Löwe, eine Stimme so sanft und klar wie die einer Ente.
Der Legende nach ist die Kumari eine Kind gewordene Wiederkunft der Göttin Taleju, der Schutzgöttin des Kathmandu-Tals, die einst die Beraterin eines nepalesischen Königs war und ihren erwachsenen weiblichen Körper verliess, als dieser versuchte, sie zu belästigen. Seither lassen sich Monarchen und Politiker von ihrer kindlichen Reinkarnation segnen.
Ist eine Stellvetreterin der Taleju gefunden, so wird sie der Legende Mutproben ausgesetzt: In der «schwarzen Nacht» werden der Göttin Kali 108 Büffel geopfert. Die Köpfe der Tiere werden danach in einen Raum gebracht, Männer tanzen dazu im Blut der Tiere und das Kind muss zuschauen. Danach muss es alleine eine Nacht in einem Raum mit den Köpfen geschlachteter Büffel und Ziegen verbringen. Schafft es dies, ohne Angst zu zeigen, ist es göttinnentauglich. Eine ehemalige Kindgöttin relativierte diesen Brauch (nicht wesentlich) in ihrer Autobiografie, es gäbe, schrieb sie, keine tanzenden Männer und höchstens ein Dutzend Köpfe toter Tiere.
Menschenrechtsorganisationen kämpfen seit Jahren für mehr Freiheit und ein Recht auf Bildung der Kindgöttinnen von Nepal. Dank Ex-Göttinnen wie Chanira Bajracharya wurde zumindest die Bildungssituation verbessert.
(sme)