Seit Montag kommt es in Nepal zu blutigen Protesten. Die Polizei griff mit aller Härte durch, mindestens 19 Demonstrierende wurden getötet. Die Protestierenden ihrerseits stürmten das Parlamentsgebäude und steckten es in Brand. Wie ist die Situation aktuell?
Khagendra Raj Dhakal: Mit Ausnahme von einigen kleinen Protesten ist es aktuell ruhig. Das liegt vor allem daran, dass das Militär die Kontrolle über Nepal übernommen hat. Für die Hauptstadt Kathmandu gilt eine strenge Ausgangssperre. Die Politiker, gegen die sich der Zorn der Demonstranten richtet, sind in ein eigens dafür eingerichtetes Camp geflüchtet, wo sie unter militärischem Schutz stehen.
Wer sind die Menschen, die auf die Strasse gehen?
Die Menschen, die demonstrieren, sind nicht von einer bestimmten ideologischen Überzeugung getrieben. Was sie eint: Sie gehören zum grossen Teil der Gen Z an.
Warum sind die Menschen in Nepal so wütend?
Die Wut der Menschen hat sich über Jahrzehnte aufgestaut. Seit 35 Jahren sind in Nepal die gleichen Leute an der Macht. Trotz zwei grosser Volksbewegungen in den Jahren 1990 und 2006 hat sich an den Problemen im Land nichts geändert. Insbesondere junge Menschen leiden unter der in Nepal grassierenden Korruption, Vetternwirtschaft und Perspektivlosigkeit. Dieser Frust hat sich nun entzündet.
Warum entzündet er sich gerade jetzt?
Letzte Woche hat die Regierung ein umfassendes Social-Media-Verbot in Kraft gesetzt. Über 20 Plattformen – darunter Whatsapp, Facebook, Instagram und Signal – waren von einem auf den anderen Moment für die Leute in Nepal gesperrt. Nach offizieller Darstellung sollen die Social- Media-Plattformen damit reguliert werden. Gemäss einem Gesetz von 2023 hätten sich die Plattformen in Nepal registrieren müssen. Dieser Aufforderung sind sie nicht nachgekommen, deshalb die Sperrung. In den Augen der Demonstranten geht es aber nicht um Regulierung, sondern um Zensur.
Wie wichtig ist denn Social Media im Alltag der Menschen in Nepal?
In Nepal brauchen die Menschen Social Media nicht nur, um sich untereinander auszutauschen. Social Media ist auch ein wichtiges Instrument, um sich über die Politik zu informieren. Parlamentsdebatten werden live auf Facebook übertragen. Es geht den Nepalesen also um digitale demokratische Teilhabe, um die Möglichkeit, die Regierung kritisieren zu können.
Als Folge der Proteste trat am Dienstag Ministerpräsident K.P. Sharma Oli ab, die Social-Media-Sperre wurde zurückgenommen. Genügt das, damit wieder Ruhe einkehrt in Nepal?
Es ist noch zu früh, um das beurteilen zu können. Im Moment ist Nepal völlig gelähmt, keine der staatlichen Institutionen funktioniert mehr. Ein ganzes politisches System wurde innerhalb von zwei Tagen zerschlagen. Ich glaube nicht, dass es das irgendwo auf der Welt so schon mal gegeben hat.
Bei den Demonstrationen griff die Polizei hart durch, mehrere Personen kamen ums Leben, hunderte wurden verletzt. Wie beurteilen Sie das Vorgehen der Polizei?
Ich finde es verstörend. Die Polizisten setzten Wasserwerfer, Tränengas, Gummischrot und teils offenbar sogar harte Munition ein. Mitunter gegen Minderjährige, teils in Schuluniform. Das war exzessive Polizeigewalt. Meine einzige Erklärung dafür ist, dass Regierung und Polizei mit den massiven Protesten völlig überfordert waren. Sie haben das nicht kommen sehen.
Auch die Demonstranten und Demonstrantinnen gingen unzimperlich vor. Sie attackierten mehrere Minister und setzten deren Häuser in Brand. Sie sagen, dieser radikale Protest sei notwendig, um in Nepal Veränderung herbeizuführen. Stimmen Sie dem zu?
Es sollte immer andere Wege als Gewalt geben. Aber ich verstehe, woher der Frust kommt. Viele der Demonstranten sind aufgewachsen mit den immergleichen politischen Köpfen. Sie sind in die Schule, ins College, an die Universität gegangen: Die Politiker und ihre leeren Versprechen sind die gleichen geblieben. Gesellschaftlicher Wandel hat für sie nicht stattgefunden.
Ein Beispiel für einen ewigen Politiker ist K.P. Sharma Oli, der am Dienstag unter grossem politischen Druck zurücktrat. Seit 1991 prägt er die nepalesische Politik, war viermal Ministerpräsident. Wie beurteilen Sie seine Arbeit?
Ich will das nicht kommentieren. Allgemein lässt sich sagen: Den alten politischen Eliten ist es zu verdanken, dass Nepal heute eine Demokratie ist. Beim Versuch, Nepal sozial und wirtschaftlich zu entwickeln, sind sie krachend gescheitert.
Was fordern die Demonstranten und Demonstrantinnen jetzt?
Erstens fordern sie die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Zweitens die Gründung einer starken Anti-Korruptions-Kommission. Diese soll drittens die politischen Eliten, die nun gestürzt wurden, zur Rechenschaft ziehen.
Was macht die nepalesische Politik so korrupt?
Die nepalesische Politik ist seit Jahren in Kartellen organisiert. Einzelne mächtige politische Figuren vereinen alle Macht auf sich. Vieles wird in diesen Kartellen hintenrum geregelt, indem sich die Spitzenpolitiker dieser Kartelle untereinander absprechen – vorbei an Parlament und Bevölkerung. Das ist nicht nur ein demokratisches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem.
Warum auch wirtschaftlich?
Wir sehen das auch in unserer täglichen Arbeit als NGO. Solange in Nepal korrupte Strukturen herrschen, ist das Land für ausländische Investoren uninteressant. Ironischerweise hat die Plattform X so begründet, warum sie sich in Nepal nicht registrieren und niederlassen will: Das Land ist ihnen zu korrupt.
Welches Signal sendet die nepalesische Bevölkerung mit diesen Protesten in die Welt?
Erstens haben die Proteste gezeigt, was passiert, wenn Politiker nicht mehr der Öffentlichkeit dienen, sondern nur der Macht und dem Geld. Zweitens sollten sie eine Warnung an alle sein, die die Jugend unterschätzen und bevormunden. Die Generation Z lässt es sich nicht gefallen, wie Kinder behandelt zu werden. Politiker müssen lernen zu verstehen, was diese Generation ausmacht und was sie sich wünscht.
Wie gross ist Ihre Hoffnung, dass diese Prozesse nachhaltige Veränderung bringen werden?
Ich habe da gemischte Gefühle. Es besteht die Gefahr, dass sich die Bewegung jetzt von verschiedenen politischen Akteuren vereinnahmen lässt und sich zerstreitet. Sollte es der Bewegung allerdings gelingen, ihre unideologischen Ziele – weniger Korruption, mehr Einbindung der Jugend in die Demokratie – geschlossen zu verfolgen, dann können sie viel erreichen. Diese Proteste sind ein lauter Ruf nach Veränderung.
Lieber Bundesrat. Bitte hier genau zuschauen..