Vor dem Eröffnungsspiel am Afrika-Cup zwischen Gastgeber Elfenbeinküste und Guinea-Bissau fällt der Medienbus kurzfristig aus. Die Zeit wird knapp, und man hört viel von verstopften Strassen und schwieriger Anreise zum Stadion. Wir nehmen ein Uber. Dieses steht eine Stunde später rund sechs Kilometer vor dem Stadion im Stau. Nichts geht mehr. Drinnen zumindest.
Draussen, da tanzt der Bär. Oder gefühlt ganz Abidjan. Was die Einwohner der Hauptstadt entlang der Strasse zum Stadion schon Stunden vor dem Spiel abziehen, ist Vorfreude pur. Sie hüpfen, tröten, singen, trommeln entlang der vierspurigen Strasse. Es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich wirklich ein tanzender Bär auftauchen würde.
Sollen wir von hier zu Fuss gehen? In knapp 1,5 Stunden wären wir im Stadion. Da rollt der Verkehr wieder ein Stück. Wir bleiben sitzen. Durch eine nächste Strassensperre kommen wir dank der Journalistenausweise. Aber rund zwei Kilometer vor dem Stadion geht wirklich nichts mehr. Wir steigen aus und werden bald von den Massen verschluckt. Es sind wilde Szenen. Eine knappe Stunde später sind wir im Stadion.
Die Eröffnungsfeier läuft bereits, als wir ankommen. Die Stimmung in der 60'000 Zuschauer fassenden Arena ist – obwohl nicht ganz gefüllt – elektrisierend. Gefühlt wird endlos Akwaba («Willkommen»), der offizielle Turniersong, gespielt. Alle johlen spätestens beim «eeh-ooh, eeh-ooh» mit, quasi ein «Chum bring en hei» für den ganzen afrikanischen Kontinent. Ich werde die Melodie nie mehr aus meinem Kopf bringen.
Die letzten Stunden mit der hektischen Anreise zum Stadion, den vielen Eindrücken, dem Lärm, so vielen Menschen, dem krassen Unterschied zwischen den armen Menschen am Strassenrand und uns Privilegierten hier im Stadion haben Spuren hinterlassen. Mein Sitznachbar Simon aus England – erstmals am Afrika-Cup – sitzt fast apathisch da. Normalerweise verfolgt er Liverpool und Everton nah. Er kennt sich aus mit Emotionen im Fussball. Jetzt aber sagt er: «Hey, ich muss kurz raus. Ich kann das grad nicht verarbeiten.»
Man hört viel über Fans am Afrika-Cup. Oder eher: das Fehlen der Fans. Die Stadien sind selten gut gefüllt oder füllen sich erst im Verlauf des Spiels. Das traf bei früheren von mir besuchten Afrika-Cups meist zu. Deshalb auf fehlendes Interesse zu schliessen, ist ein grober Trugschluss. Meist sind es andere Umstände, die ausländischen Fans nicht erlauben, ins Gastgeberland zu reisen und den Einheimischen, sich einen Stadioneintritt zu gönnen.
Die Begeisterung aber, die ich auf den Strassen von Abidjan antreffe, ist grenzenlos. Kaum jemand, der nicht irgendwo die Nationalfarben trägt. Ganz egal, ob das die Verkäuferin im Supermarkt, der Taxifahrer, das Kleinkind oder der Geschäftsmann ist. An Spieltagen bleiben diverse Geschäfte oder öffentliche Anlagen geschlossen. Man will ja vorbereitet sein für die Partie – auch wenn die erst abends stattfindet.
In der Elfenbeinküste habe ich oft das Gefühl, dass die Stadien meist gut ausgelastet sind und die Stimmung auf den Rängen sich nicht vor derjenigen der Europameisterschaft verstecken muss. Bei Ghana gegen Ägypten geht gar «La Ola» um die Stadionrunde. Dazu gesellt sich das permanente Trommeln, tanzen und singen der Fans. In Yamoussoukro setzt sich eine Trommeltruppe neben die Medientribüne. An die Arbeit ist nicht mehr zu denken.
Und dann sind natürlich sie da: die verkleideten Fans. An jeder Fasnacht würden sie einen der vorderen Plätze belegen. Ganzkörperbemalungen oder verrückte Verkleidungen gehören einfach dazu. Als Aussenstehender ist es nicht immer klar, ob es sich um einen gewöhnlichen Fan handelt oder doch eher um einen Voodoo-Meister. Oder beides.
Früher kam auch mal ein lebendiges Huhn mit ins Stadion – das sehe ich 2024 nirgends. Aber bleibenden Eindruck hinterlassen die Fans von Gambia. Einer kommt als roter Wuschel, einer mit einer Art Holzrinden-Kleid, dazu schlägt er zum Takt zwei Holzscheite zusammen. Ich habe schon viele verrückte Fans gesehen – aber so etwas noch nie. Die beiden dürften bei 30 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von zwischen 60 und 80 Prozent auch ziemlich schwitzen.
Doch wie zuvor erwähnt: Die wahre Begeisterung, die spielt sich ausserhalb des Stadions ab. Wenn du verstehen willst, was Fussball hier bedeutet, dann musst du in die Strassen der Stadt. Die Partie zwischen der Elfenbeinküste und Nigeria schaue ich darum im Public Viewing in Treichville, einem Mittelstands-Stadtviertel. Die Fanzone bleibt bis kurz vor Spielbeginn schlecht besucht, doch in den Minuten vor dem Anpfiff stürmen die Zuschauer vor die grossen Screens.
Es herrscht ausgelassene Stimmung; kaum nähert sich der Gastgeber dem Strafraum, steigt der Lärmpegel. Leider fällt kein Tor für die «Elefanten» und sie verlieren 0:1 gegen die «Superadler». Ich glaube, die Stimmung wäre explodiert im umgekehrten Fall.
Dass ich damit richtig liege, höre ich von befreundeten Journalisten nach dem überraschenden Achtelfinal-Erfolg der Elfenbeinküste gegen den Senegal. Selbst hartgesottene Fussballkenner aus Nigeria, Ghana, England oder Dänemark versichern mir, dass sie selten solche Szenen nach einem Fussballspiel erlebt haben.
«Es drehen hier alle völlig durch. Das Land hat nicht geschlafen, es war absolut wild», schreibt mir Abiola Shodiya, der den Afrika-Cup seit Jahren hautnah verfolgt – und er ist sich als Nigerianer einige wilde Feierlichkeiten gewohnt. Einen tanzenden Bären hat er allerdings nicht gesehen. Noch nicht.
Denn noch ist die Elfenbeinküste im Rennen. Heute geht es im Viertelfinal gegen Mali (18 Uhr Schweizer Zeit). Im Halbfinale würde Kap Verde oder Südafrika warten. Plötzlich ist das Tableau offen. Es kann alles passieren. Klar ist nur eines: Es wird der Ausnahmezustand herrschen.