«Wunder, Wunder, Wunder, Wunder», ertönte es vergangenen Freitag, 16 Uhr Ortszeit, plötzlich über Armee-Funkgeräte im Amazonas. Viermal wiederholt, für vier Kinder. Sie schafften das schier Unmögliche: 40 Tage lang schlugen sich ein 13-jähriges Mädchen und seine drei jüngeren Geschwister nach einem Flugzeugabsturz durch den unwegsamen Dschungel Kolumbiens.
Sie gehören zur indigenen Gruppe der Uitoto, die abgeschottet inmitten des südlichen kolumbianischen Dschungels lebt. Trotz ihres in der Öffentlichkeit eher unsichtbaren Daseins zog die Suche nach ihnen die ganze Nation in ihren Bann und führte zu einer eindrücklichen Zusammenarbeit zwischen Indigenen und den nationalen Behörden. Eine Zusammenarbeit, ohne welche die Kinder womöglich nie gefunden worden wären. Eine Zusammenarbeit, die zwei Lebenswelten zusammenbrachte.
Um diese zu verstehen, muss zuerst ein Blick in die Vergangenheit der Indigenen und insbesondere der Uitoto geworfen werden.
Vor der Ankunft der Spanier lebten die Menschen im Amazonas während Tausenden von Jahren ein ungestörtes Leben. Mit dem 16. Jahrhundert ging diese Zeit für viele Indigene vorbei. Auch die Uitoto hatten ab diesem Zeitpunkt sporadisch Kontakt mit den Weissen, lebten aber bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend isoliert. Sie ernährten sich hauptsächlich von Maniok, von dem sie über zwanzig verschiedene Sorten anbauten. Dies kombinierten sie unter anderem mit dem Anbau von Bananen, Yamswurzeln, Papayas, Süsskartoffeln und Mangos. Eine wichtige Rolle spielten Schamanen, welche die Pflanzen- und Tierwelt genau beobachteten und der Gemeinschaft Instruktionen gaben, wie sie diese richtig zu sammeln und zu konsumieren hatte.
Dann setzte der Kautschukboom ein, für dessen Gewinn immer mehr Unternehmen in den Amazonas vordrangen. Betroffen war auch das Gebiet der Uitoto, die sich zunächst kooperativ zeigten und für Gegenleistungen Kautschuk sammelten. Es dauerte aber nicht lange, bis sich die Uitoto gegen die Nachteile zu wehren begannen, worauf die Unternehmer mit brutaler Versklavung reagierten.
Erst die einsetzende Kautschukproduktion in Malaysia ab den 1920er-Jahren brachte den Uitoto Linderung. Mit dem Kolumbianisch-Peruanischen Krieg in den 1930ern zogen sich die Kautschukunternehmer schliesslich ganz zurück.
Lag die Bevölkerung der Uitoto vor dem Kautschukboom bei geschätzt 50'000 Menschen, sank sie laut einem Zensus aus dem Jahr 2005 bis auf 6444. Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich heute über den Südosten Kolumbiens bis in den Norden Perus und umfasst etwa 35'000 Quadratkilometer.
Obwohl die Uitoto heute in 13 anerkannten Schutzgebieten leben, ist ihr Lebensraum aufgrund von Abholzung und Bergbau noch immer bedroht. Zudem wird der Dschungel immer wieder Schauplatz gewaltsamer Überfälle von FARC-Splittergruppen. Dabei tötet die linke Guerillabewegung nicht nur Zivilistinnen und Zivilisten, sondern zwangsrekrutiert auch Kinder und Jugendliche.
Ebensolche Guerillagruppen stehen auch am Beginn dieser wundersamen Geschichte. Wie der Vater der Kinder, Manuel Ranoque, erzählt, habe er vor einigen Monaten wegen Drohungen der Front Carolina Ramírez aus seinem Dorf flüchten müssen. Die Front Carolina Ramírez ist eine FARC-Splittergruppe, die das im Jahr 2016 unterzeichnete Friedensabkommen mit der kolumbianischen Regierung nicht unterstützt.
Ranoque forderte seine Frau auf, ihm mit den vier Kindern in die Nähe von Bogota zu folgen.
Die Mutter und ihre vier Kinder taten, wie ihnen geheissen. Und bereits in ihrer Flucht wird die unterschiedliche Lebenswelt der indigenen und der kolumbianischen Menschen deutlich: Die Indigenen im Amazonas haben keine geeigneten Fortbewegungsmittel, um das Dickicht des Regenwalds zu durchqueren. Sie sind auf Charterflüge von Privatunternehmen angewiesen, die häufig mit schlecht gewarteten Flugzeugen und unerfahrenem Personal operieren. So auch in diesem Fall: Wie diverse Medien berichteten, sei das Flugzeug bereits zwei Jahre zuvor abgestürzt und der Pilot sei eigentlich ein Taxifahrer gewesen.
Genau das kritisierte die Nationale Indigene Organisation Kolumbiens am 19. Mai in einer Stellungnahme auf ihrer Website. Nebst dem Ausdruck ihrer Anteilnahme forderte sie eine sorgfältige Aufklärung der Ereignisse und ein besseres Angebot zur Unterstützung der indigenen Bewegungsfreiheit:
Am 1. Mai stürzte die kleine Cessna mit der Mutter, Magdalena Mucutuy, und ihren vier Kindern, dem Piloten und dem Führer der indigenen Gemeinschaft über dem Amazonas ab. Die Behörden gingen von keinen Überlebenden aus. Als sie aber am 16. Mai das Wrack endlich erreichten, fanden sie nur die Leichen der drei Erwachsenen vor. War es möglich, dass die Kinder noch lebten? Sofort wurde die «Operation Hoffnung» ins Leben gerufen, in deren Rahmen noch mehr Rettungskräfte und indigene Suchtruppen in die Tiefen des Dschungels geschickt wurden.
Die Suche wurde mit Flugzeugen fortgesetzt, welche Leuchtraketen abfeuerten und Scheinwerfer einsetzten, damit die Suchmannschaften auch bei Nacht weitersuchen konnten. Während die Behörden auf Technologie setzten, besannen sich die Indigenen auf Tradition: Sie führten Rituale durch, die der ältesten Tochter Kraft und Weisheit verleihen sollten, ihre Geschwister durch den Dschungel zu führen. Zudem baten sie den Dschungel, die Kinder wieder freizugeben.
Schlussendlich war die Zusammenarbeit der Indigenen und der Behörden der Schlüssel zur Entdeckung der Kinder. Gegenüber El Tiempo erklärte der Führer der Indigenen-Suchtruppe, Luis Acosta:
Die Indigenen sahen Spuren und hörten Geräusche, die auch der modernsten Technologie verborgen blieben.
Die Grossmutter María Fátima Valencia tauschte sich derweil mit einem Schamanen aus, der ihr versicherte, dass die Kinder noch am Leben seien, berichtete die Zeitung El Colombiano. Diese Aussage kam für die Grossmutter aber eher einer Bestätigung gleich, zeigte sie sich bereits zuvor davon überzeugt, dass die Kinder aufgrund ihrer Kenntnisse des Dschungels in dieser Umgebung überleben können.
Doch auch die Grossmutter spannte mit den modernen Technologien der Rettungskräfte zusammen: So nahm sie etwa eine Nachricht in ihrer einheimischen Sprache auf, welche danach über Lautsprecher an den Helikoptern über den Dschungel schallte. Darin bat sie die Kinder, sich nicht weiterzubewegen und auf Hilfe zu warten.
Vergebens – vermutlich aus Angst vor Guerilla-Gruppen im Dschungel blieben die Kinder stets in Bewegung, glauben die Hilfskräfte. Auch scheint diese moderne Technologie den Kindern eher Furcht eingeflösst zu haben. Die Kinder hätten sich ob der Stimme der Grossmutter erschrocken, berichtet der Grossvater im Interview mit der kolumbianischen Zeitung Semana. Dennoch scheint sie für ihr Überleben eine grosse Rolle gespielt zu haben.
Es soll die Grossmutter gewesen sein, die insbesondere der ältesten Tochter Lesly alles Wissen über die lokale Flora und Fauna des Dschungels vermittelt habe. Ohne dieses – sind die Indigenen überzeugt – hätten die Kinder im Dschungel nicht überlebt.
Im Gegensatz zu den Rettungskräften mussten sich die vier Kinder im Alter von 13, 9, 4 und einem Jahr ohne jegliche Hilfsmittel durch den Dschungel bewegen, in dem es von gefährlichen Tieren und giftigen Pflanzen wimmelt. Die ersten vier Tage blieben sie aber noch neben dem Flugzeug, in der Hoffnung auf Rettung. Einige kolumbianische Medien berichteten, dass die Mutter während dieser Tage noch am Leben gewesen sei. Doch der Grossvater der Kinder, der nach der Rettung mit ihnen gesprochen hat, dementiert das.
Zu Beginn sollen sie sich von drei Kilo Maniokmehl ernährt haben, berichtet ein Sprecher der Rettungskräfte gemäss CNN. Danach hätten sie ihren Hunger vor allem anhand zweier Früchte, die im Dschungel als «Juan Soco» und «Milpesos» bekannt sind, versucht zu stillen.
Wie der Grossvater weiter berichtet, hätte die älteste Tochter kleine Hütten zum Schlafen gebaut:
Um ihre Füsse vor piksenden Pflanzen und krabbelnden Insekten zu schützen, riss die älteste Tochter Stoffstücke aus der Kleidung der toten Mutter, um sie sich und den Geschwistern um die Füsse zu binden.
Nach etwa zwei Wochen im Dschungel erhielten die Kinder plötzlich Begleitung: Es war der belgische Schäferhund Wilson, der ihre Spuren im Rahmen der Rettungsaktion bereits vor Tagen ausfindig gemacht hatte und dafür im Netz gefeiert wurde. Er folgte den Kindern während einiger Tage, pendelte sogar zwischen ihnen und der Armee hin und her, im Versuch, die beiden zu vereinen. Eines Tages sei er aber nicht mehr zurückkommen, berichteten die Kinder dem Grossvater. Auch zur Armee fand er nicht zurück. Seither gilt er als vermisst.
Für die Rettungskräfte ist damit die Operation Hoffnung noch immer nicht beendet, wie sie auf Twitter schreiben:
#GeneralGiraldo: "Nuestra premisa como comandos: Jamás se abandona a un compañero caído en el campo de combate. Avanza la #OperaciónEsperanza en la búsqueda de nuestro canino Wilson, que haciendo rastreo y en su afán de encontrar a los niños se aleja de las tropas y se pierde" pic.twitter.com/YwevvJuyIk
— Fuerzas Militares de Colombia (@FuerzasMilCol) June 10, 2023
Am 9. Juni wurden die Kinder schliesslich von einer Suchtruppe entdeckt. Den Kindern ging es den Umständen entsprechend gut, die Euphorie war gross. Sie wurden in ein Militärhospital der Hauptstadt Bogotá gebracht, wo sie gemäss Militärarzt Carlos Rincón Arango noch zwei bis drei Wochen bleiben werden. Dort müssen sie langsam wieder an Nahrung gewöhnt werden und wieder zu Kräften kommen.
Die Freude und Harmonie dauerte aber nicht lange an. Der Vater der Kinder zeigte sich empört darüber, dass die Gesichter der Kinder ohne seine Erlaubnis in den Medien verbreitet wurden, berichtet El Tiempo:
Während der Präsident sich mit den Kindern im Spital ablichten liess, verschob er ein Treffen mit dem Vater. Dieser nimmt das persönlich:
Der Vater macht sich nicht zuletzt wegen der Guerilla-Drohungen Sorgen um die Kinder, deren Bilder nun überall im Netz herumschwirren. Gegenüber den Medien klagt er:
Doch da reissen die schlechten Neuigkeiten für den Vater noch nicht ab: Mit dem Tod der Mutter und dem Fund der Kinder ist ein Sorgerechtsstreit über sie entbrannt. Die Grosseltern der Kinder bezichtigen den Vater, seiner Frau gegenüber gewalttätig gewesen zu sein und versucht zu haben, eines der Kinder zu missbrauchen, schreibt die kolumbianische Zeitung Semana. Angesichts dessen fordern sie das Sorgerecht. Was hinter den Anschuldigungen wirklich steckt, ist noch offen.
Feststeht, dass die Grosseltern die Kinder bei sich aufziehen wollen. Der Grossvater wünscht sich, dass der Präsident ihnen dafür ein kleines Haus in Bogotà oder in Villavicencio zur Verfügung stellt, damit die Kinder dort eine Ausbildung machen können. Seine eigenen Mittel reichen dazu nicht aus.
Er hofft damit auf eine Fortsetzung der Unterstützung durch die Regierung. Denn ohne sie wären die Kinder womöglich nie gefunden worden. Ebenso wie die Rettung ohne die Hilfe der Indigenen nicht möglich gewesen wäre.
Mit Worten, mit denen er die Ressourcen sowohl der Indigenen als auch der Regierung ehrt, bedankt er sich beim Präsidenten:
Was die Indigenen jetzt noch immer nicht haben, ist ein adäquater Schutz ihres Lebensraums sowie ein grösseres politisches Mitspracherecht. Diese Forderungen stehen bereits seit Jahren im Raum. Ob sich der Präsident nach diesem Vorfall für die Anliegen der Indigenen mehr sensibilisiert hat, wird sich zeigen.