Syrien ist ein Vielvölkerstaat, den der nun gestürzte Diktator Assad mit grösstmöglicher Brutalität zusammengehalten hat. Obwohl Assad die erste Phase des Bürgerkriegs unter anderem mit russischer und iranischer Schützenhilfe gewonnen hatte, war das Land seit 2016 faktisch viergeteilt.
Ein grosser Teil unter Herrschaft des Regimes, die Region Idlib unter Kontrolle sunnitisch-islamistischer Rebellen, und der Nordosten regiert von Kurden. Hinzu kamen sunnitisch-islamistische Rebellen, die quasi als Söldner im Auftrag des türkischen Präsidenten Erdogan Teile Nordsyriens besetzten und gegen die kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) vorgingen.
Ursache des 2011 begonnenen Bürgerkriegs war die grassierende Korruption unter Assad und die Tatsache, dass der blutrünstige Diktator praktisch ausschliesslich die Interessen seiner alawitischen Minderheit vertrat und die sunnitische Mehrheit im Land unterdrückte.
Die Alawiten, deren Kernland sich in den Küstengebieten am Mittelmeer befindet, stellen nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung. Als Religionsgemeinschaft sind sie eine Abspaltung der Schiiten. Dem steht mit rund 75 Prozent Bevölkerungsanteil die sunnitische Mehrheit gegenüber, wobei diese nicht nur aus Arabern besteht, denn auch die meisten Kurden sind Sunniten.
Mit Assads Sturz ist die Unterdrückung der sunnitischen Mehrheit durch die alawitische Minderheit beendet. Assad hat sich zudem immer als Schutzpatron der christlichen Minderheit (maximal 10 Prozent der Bevölkerung) aufgespielt, doch sind während des Siegeszugs der sunnitisch-islamistischen HTS-Rebellen (Hayat tahrir asch-Scham, Komitee zur Befreiung der Levante) keine Massaker an Christen bekannt geworden.
Hanna Dschallouf, der katholische Bischof von Aleppo, sagte der italienischen Tageszeitung «Corriere della Sera», dass sich die HTS-Kämpfer gegenüber den Christen korrekt verhalten hätten. Auf die Frage, ob man den Rebellen trauen könne, antwortete der Geistliche: «Wenn ich an meine Erfahrungen in der Region Idlib denke, dann muss ich sagen, dass sie ihr Wort gehalten haben. Sie haben Häuser, Grundstücke und enteignete Kirchen zurückgegeben.»
Der päpstliche Nuntius in Damaskus, Kardinal Mario Zenari, mahnte allerdings zur Vorsicht: «Alles ist noch sehr zerbrechlich. Wir stehen an einem Scheideweg, das Land droht zu zersplittern.» Es gehe jetzt darum, den beruhigenden Worten der HTS-Anführer Taten folgen zu lassen.
Neben der Mehrheit der sunnitischen Araber gibt es die Minderheiten der Alawiten, Kurden, Christen und Drusen. Auch die Drusen im Süden Syriens haben sich der Revolution gegen Assad angeschlossen. Die kurdisch dominierten SDF hatten zwar jahrelang mit den Schergen des Regimes paktiert, haben diese nun aber vertrieben.
Auch die russischen Truppen, die in den kurdischen Siedlungsgebieten stationiert waren, haben diese inzwischen verlassen oder sind mit der Evakuierung beschäftigt. Eine gewisse Stabilität im Nordosten garantieren amerikanische Truppen, die Erdogan bisher immer davon abhalten konnten, dem kurdischen Protostaat mit seinen Erdölfeldern den Garaus zu machen.
Wie schon früher hat die von der Türkei gesteuerte Syrian National Army (SNA) nun eine Offensive gegen die kurdisch dominierten SDF bei der Stadt Menbidsch im Norden Syriens gestartet – unterstützt von der türkischen Luftwaffe. Laut offiziellen türkischen Angaben wurde die Stadt inzwischen von der SNA erobert.
Praktisch zeitgleich versuchen Gruppen der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) im Nordosten IS-Dschihadisten zu befreien, welche die SDF seit Jahren in Gefängnissen und Lagern festhalten. Um dies zu verhindern, fliegt die amerikanische Luftwaffe zahlreiche Einsätze gegen die IS-Terroristen. Kardinal Zenaris Warnung vor der Zersplitterung Syriens droht also zumindest im Norden wahr zu werden. Aus dem Rest des Landes sind aber noch keine Meldungen über Kämpfe zwischen rivalisierenden Rebellengruppen nach aussen gedrungen.
Insgesamt gibt es einige positive Signale: An den Grenzübergängen von der Türkei und Libanon nach Syrien stauen sich Autokolonnen von Flüchtlingen, die in ihre Heimat zurückkehren wollen. Ein Zeichen der Mässigung der Islamisten ist die Tatsache, dass sie den syrischen Premierminister Mohammed Dschalali für eine Übergangszeit im Amt belassen.
Ausserdem hat das Generalkommando der islamistischen Rebellen angekündigt, dass die persönlichen Freiheitsrechte garantiert würden. Insbesondere sei es verboten, den Frauen irgendwelche Kleidervorschriften zu machen. Das klingt nicht gerade so, als ob die Einführung der Scharia unmittelbar bevorstünde.
Dennoch wäre grosse Freude über einen Neuanfang zu früh: Nach dem Sturz des libyschen Diktators Gaddafi dauerte es nicht lange, bis die Muslimbrüder versuchten, die Macht zu übernehmen, und Libyen zu einem gescheiterten Staat wurde. Welche Rolle die Muslimbrüder und deren Unterstützer im Emirat Qatar spielen, ist eine offene Frage. Überhaupt wissen wir über die ausländischen Strippenzieher im Moment nur so viel gesichert: Russland und der Iran haben vorerst nichts mehr zu melden.
Die Türkei hingegen verfolgt immer noch ihr Ziel, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die «Mutter» der SDF, zu vernichten und die kurdische Autonomie im Nordosten Syriens zu beenden. Solange die USA die SDF unterstützen, wird das Erdogan nicht gelingen. Doch der designierte US-Präsident Trump meint, Amerika solle sich aus dem syrischen Konflikt heraushalten. Damit würde er Erdogan die SDF praktisch zum Frass vorwerfen.
Die kurdischen Milizen waren bisher aber die erfolgreichsten und härtesten Gegner des IS. Sollten sie besiegt werden, würden Tausende gefangene IS-Terroristen ihre Freiheit wiedererlangen – mit entsprechenden Risiken für die Region und die ganze Welt. Unklar ist auch, was die anderen arabischen Strippenzieher wollen – darunter vor allem Saudi-Arabien. Folgende Szenarien sind für Syrien denkbar, wobei auch Mischformen in Frage kommen.
Schleichende Islamisierung: Trotz ihrer schönen Versprechungen übernehmen die Islamisten die Macht und führen schrittweise die Scharia ein. Auf Widerstand wird das bei den religiösen Minderheiten stossen, nicht zuletzt bei den Kurden.
Ein Bundesstaat mit Minderheitenrechten: Die federführende HTS, die bereits mit den SDF in Kontakt steht, setzt ihr Versprechen eines föderalen Staatswesens um und garantiert die Rechte von Alawiten, Kurden, Christen und Drusen. Ohne tatkräftige westliche Hilfe dürfte dieses Szenario kaum Wirklichkeit werden.
Bürgerkrieg: Wie schon bei früheren Gelegenheiten können sich die Rebellen nicht auf eine Machtteilung einigen. Es kommt zum Bürgerkrieg. Nach einem Abzug der Amerikaner zerstören Islamisten mit türkischer Hilfe den kurdischen Protostaat im Nordosten. (aargauerzeitung.ch)